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Gottes Tochter

Gottes Tochter

Titel: Gottes Tochter
Autoren: Friedrich Ani
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griff in die Tasche und hielt ihm die blaue Karte hin, ohne sich zu bewegen. De Vries war gezwungen näher zu kommen.
    »Sie haben ›meine‹ Tochter gesagt, deswegen habe ich gefragt.«
    »Unverschämt!« Mit einer Geste, als halte er Schmutz in den Händen, gab de Vries den Ausweis zurück.
    »Können Sie mir erklären, warum Ihre Tochter nicht nach Hause kommen will? Hat sie Probleme in der Schule?«
    »Hören Sie nicht zu? Das habe ich Ihnen schon an der Tür gesagt: Sie hat keine Probleme in der Schule, sie ist vor zwei Jahren durchgefallen, hätte nicht sein müssen, darf passieren, inzwischen hat sie sich gefangen, sie ist eine gute Schülerin, sie wird das Abitur schaffen.«
    »Hat sie Liebeskummer?«
    »Nein!«
    »Waren Sie in letzter Zeit mit ihr verreist?«
    Margit de Vries sah ihren Mann an, das Heben des Kopfes fiel ihr schwer. Seit sie am Morgen aufgestanden war, hatte sie Kopfschmerzen, das Aspirin half ihr nicht, und mehr als drei Tabletten wollte sie nicht nehmen, obwohl ihr Mann sie dazu gedrängt hatte. Wolf de Vries, der sich nicht hingesetzt hatte, erwiderte den Blick seiner Frau mit grimmiger Miene.
    »Über Weihnachten waren wir an der Ostsee, Verwandtenbesuch, Silvester waren wir wieder hier…«
    »Warum?«
    »Bitte?«
    Offensichtlich war de Vries gerade dabei gewesen, sich in eine Sicherheit hineinzufabulieren.
    »Warum waren Sie an Silvester wieder zurück?«, fragte Süden.
    »Weil wir das neue Jahr hier beginnen wollten«, sagte de Vries und schaute zur Uhr aus poliertem Holz, die auf dem Klavier stand.
    »Hat es Ihrer Tochter an der Ostsee gefallen?«
    »Ja, sie war noch nie in Ostdeutschland, wir im Übrigen auch nicht. Eine Schande.«
    »Hat sie sich nicht gelangweilt?«
    »Nein. Ist das, was Sie hier tun, Ihre normale Beschäftigung bei Vermisstenfällen? Ja?«
    »Ja«, sagte Süden. »Warum ist Ihre Tochter überhaupt mitgefahren, Frau de Vries?«
    Die Frau – um die vierzig, blaue Jeans, weiße Bluse, schwarze Stiefel, mehrere Silberringe an den Fingern, dünne, blassrot geschminkte Lippen im schmalen Gesicht – seufzte leise und hob die Hände, die sie im Schoß ineinander gelegt hatte.
    »Sie wollte… es waren Ferien… Sie wollte gern raus…«, sagte sie mit stockender Stimme.
    »Verwandtenbesuch«, sagte de Vries laut, »meine Schwägerin lebt dort oben, wir hatten den Besuch lange geplant, immer ist was dazwischengekommen.«
    Süden fiel auf, dass auf dem Klavier statt Notenheften Aktenordner und andere Geschäftspapiere lagen.
    »Hat Ihre Tochter dort jemanden kennen gelernt?«
    Weil er wie meist kein Diktiergerät mitgenommen hatte, sondern seinen kleinen karierten Spiralblock benutzte, steckte Süden jetzt die Kappe auf den hinteren Teil des Kugelschreibers und machte sich Notizen.
    »Sie hat niemanden kennen gelernt, außer ihren Onkel, den Mann meiner Schwägerin. Wir waren alle zusammen essen. Sonst niemand. Wir waren vom dreiundzwanzigsten bis zum dreißigsten Dezember dort, wenn Sie es genau wissen wollen, eine Woche. Und Jule hat niemanden kennen gelernt. Und nun sind Sie so nett und rufen in Ihrer Dienststelle an und erkundigen sich, ob es schon eine Spur von meiner Tochter gibt!«
    Süden sagte: »Das ist nicht nötig.«
    »Bitte?« De Vries machte einen Schritt auf Süden zu, einen einzigen, und verharrte, das linke Bein vor dem rechten.
    »Wenn es Neuigkeiten gäbe, wären Sie die Ersten, die davon erfahren würden.«
    »Das erwarte ich!«
    Margit de Vries rieb die Hände aneinander, eine unter der anderen.
    Sie logen. Alle. Bei jeder Vermissung. Von Anfang an. Margit und Wolf de Vries machten keine Ausnahme. Vielleicht glaubten sie sogar, was sie behaupteten, sie hatten sich so in ihre selbst gezimmerte Welt verrannt, dass sie nicht mehr herausfanden. Den meisten Menschen war es peinlich, einen nahen Verwandten als vermisst zu melden, vorausgesetzt, man konnte eine Straftat oder Suizidabsichten ausschließen. Es war ihnen peinlich, weil fremde Leute in ihre Wohnung kamen und sie ausfragten, nach den Umständen, nach den Ereignissen der letzten Tage und Wochen, nach Dingen, die im Grunde niemanden etwas angingen, auch die Polizei nicht. Und die Polizisten entschuldigten sich oftmals für ihre Fragen und Indiskretionen, es war ihr Job, so viele Fakten wie möglich zusammenzutragen und sich ein Bild zu machen. Nein, nein, alles in Ordnung. Streit? Niemals! Wir haben uns immer gut verstanden, auch in der Arbeit lief alles bestens, ehrlich. Schulden? Wer hat
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