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Gottes Tochter

Gottes Tochter

Titel: Gottes Tochter
Autoren: Friedrich Ani
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dir gefragt…«
    Funkel sah Tabor Süden an. »Er kennt deinen Namen aus der Zeitung. Habt ihr die Vermissung schon besprochen?«
    »Wir sind dabei«, sagte Thon.
    »LKA?«
    »Noch nicht.«
    »Warum nicht?«
    »Erstens ist das Mädchen volljährig, zweitens ist sie dem Anschein nach freiwillig gegangen«, sagte Thon.
    »Der Vater behauptet, sie habe schlechten Umgang, er hat Angst um sie.«
    »Von schlechtem Umgang hat er den Kollegen nichts erzählt«, sagte Thon.
    »Auf welche Schule geht sie?«, fragte Süden.
    »Luisengymnasium«, sagte Thon.
    »Das ist nicht weit«, sagte Süden. »Ich gehe hin und rede mit den Schülern.«
    »Zuerst fährst du zu den Eltern«, sagte Thon.
    »Zusammen mit Sonja.«
    »Ich rede mit den Schülern«, sagte Süden, »Sonja mit den Eltern.«
    Wieder verhalf Thon seine Erziehung zu einer ruhigen Erwiderung. »Bevor wir ein Fernschreiben absetzen und die Vermissung ins System geben, möchte ich gewisse Dinge ausschließen, wie immer, Tabor. Alles passiert wie immer, du gehst nicht allein, du gehst mit deiner Kollegin, niemand geht allein.«
    »Ja«, sagte Süden, nahm seine schwarze Lederjacke von der Stuhllehne, zog sie im Sitzen an und stand auf.
    »Hast du was dagegen, wenn ich ihn begleite?«, fragte Weber.
    »Sonja kann mit Freya zu den Eltern gehen.«
    Es war Montag. Es nieselte. Das halbe Wochenende, wenn er ehrlich war, das gesamte Wochenende hatte Thon mit seinen Kindern gestritten, anfangs nur mit ihnen, dann mit seiner Frau, dann wieder mit den Kindern, dann mit allen dreien. Das Wochenende war ein Desaster gewesen, voller Widerworte und schmollendem Schweigen hinter verschlossenen Türen. Er war der Vater. Er war der Ehemann. Er war der Leiter der Abteilung. Er musste drüberstehen. Ich muss drüberstehen. Ich delegiere. Ich habe selbstständige Mitarbeiter, selbstständige Kinder und eine selbstständige Ehefrau. Ich bin der Chef. Primus inter Pares. Ich lasse zu. Ich lasse zu. Ich lasse zu.
    »Ja«, sagte Thon.
    »Jetzt sofort?«, sagte Sonja Feyerabend.
    »Bitte?«
    Auf dem Flur fragte Funkel: »Was ist los mit ihm?«
    »Er hat viel Verantwortung«, sagte Süden. Dann wurde er plötzlich geküsst, und Funkel wandte sich ab, und Süden zuckte mit dem Kopf.
    »Sei nicht so genant«, sagte Sonja.
    Er war nicht genant. Er neigte zu Unbeholfenheit in Dingen der Liebe.
    Draußen war er allein.
    Um zur Schule zu gelangen, brauchten sie nur die Bahnhofshalle zu durchqueren und ein kurzes Stück die Dachauer Straße, wo die Straßenbahn fuhr, hinunterzugehen. Der Backsteinkoloss, in dem der Neubau des Gymnasiums untergebracht war, lag direkt an der Kreuzung zur Elisenstraße. Noch war er allein.
    Er wartete vor dem fünfstöckigen Dezernatsgebäude, in dessen Parterre sich ein türkisches Café befand, gegenüber dem Südeingang des Hauptbahnhofs. Eigentlich wartete er nicht, er stand da, unter dem Vordach, die Arme vor der Brust verschränkt. Er sah Passanten vorübereilen, er sah ihnen nicht hinterher, er registrierte sie automatisch. Den Polizistenblick abzustellen gelang ihm schon lange nicht mehr. In diesem Blick lag die routinierte Wachsamkeit eines Kriminalisten, der damit rechnete, dass ständig etwas passieren konnte, von einer Bewegung zur nächsten, jemand zieht ein Messer, eine Pistole, jemand schlägt um sich, einer aus der Menge…
    »Träumst du?«, fragte Paul Weber.
    Wortlos ging Süden neben ihm her über die Straße, bei Grün, den Kindern zuliebe.
    Weber trug einen Lodenmantel und handgenähte, wie er gelegentlich betonte, Haferlschuhe mit Gummiprofilsohlen, Kniebundhosen und ein rotweiß kariertes Hemd. Auf Fremde wirkte er wie der klassische Bayer, ein Eindruck, der durch seine geschneckelten Haare, die buschigen Augenbrauen, seine ungewöhnlich roten Ohren und seine massige Figur noch verstärkt wurde, der aber auf eine vertrackte Weise nicht zutraf. Zwar war Weber in der Nähe des Schliersees geboren worden, wo seine Mutter noch heute lebte, und er hielt sich nirgendwo lieber auf als in der bayerischen Landeshauptstadt, doch er sprach kaum Dialekt und äußerte sich ungern zu lokalen Alltagsereignissen. »Ist mir wurscht«, pflegte er zu sagen, und vermutlich kümmerte ihn tatsächlich wenig mehr als seine Arbeit und seine Ehefrau.
    Die Arbeit war ihm geblieben. Seine Elfriede war vor fünf Jahren gestorben. Und auch wenn er sich in der Zwischenzeit einmal verliebt hatte – in eine Schwester aus dem Krankenhaus, in dem seine Frau ihre letzten Wochen
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