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Gottes Tochter

Gottes Tochter

Titel: Gottes Tochter
Autoren: Friedrich Ani
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ich hatte mir schon überlegt, sie anzurufen. Aber dann wollt ich nicht. Ich wollt nicht, ich wollt mich nicht entschuldigen, ich hab mich schon so oft entschuldigt.«
    »Warum denn?«, sagte er. »Warum denn?«
    Sie schwieg. Er auch. Im Moment steckten die Worte in ihm fest. Er strengte sich so sehr an, dass er nicht merkte, wie seine Hand an der Tür nach unten glitt und auf die Klinke drückte, die schon nach unten gedrückt war. Darüber erschrak er und er nahm die Hand sofort weg. Die Klinke blieb unten.
    »Ich sperr jetzt auf«, sagte Julika, und dann hörte er ein klackendes Geräusch. Zentimeter für Zentimeter wurde die Tür aufgeschoben. Als Erstes bemerkte er, dass Julika ihre Socken ausgezogen hatte. Sie saß schräg hinter der Tür, die sie mit der einen Hand festhielt. Im Knien war er mindestens einen Kopf größer als sie. Er wollte sich hinsetzen, obwohl er nicht genau wusste, wozu, als sie die Tür losließ und sich vor ihn hinkniete. Sie sahen sich eine Weile an. Dann kam Millimeter für Millimeter ihr Kopf auf ihn zu. Rico bewegte sich nicht. Er schaute zu, wie ihr weißes, rundes Gesicht wie ein Raumschiff aus Schnee auf ihn zukam, aus dem seltsam riechenden Weltall, das sein Zimmer war. Und er atmete durch die Nase, was ein Geräusch verursachte, das ihm unangenehm war, doch seine Lippen waren verschweißt. Auch dass seine Arme an ihm herunterhingen, gefiel ihm nicht, obwohl er sah, dass ihre Arme auch herunterhingen. Verkrampft kam er sich vor, ganz verkrampft. Und ihre Stirn, schneeschön, berührte seine Stirn, und zwar genau an der Stelle, an der er die Narbe hatte. Als wäre die Narbe ein Landeplatz, den endlich jemand nutzte.

3
    S ie waren Büroner wie andere in anderen Büros, und er war einer von ihnen. Unabsichtlich kam er zu spät und…
    »Hattest du einen Termin?«, fragte sein Vorgesetzter und wartete so wenig auf eine Antwort wie Tabor Süden bereit war eine zu geben.
    … setzte sich an den Rand des langen Tisches nah bei der Tür, die er nach dem Eintreten angelehnt hatte. Sie tranken Kaffee, nur Sonja Feyerabend trank Tee, Assam, englische Mischung, unenglisch ohne Milch, bei aller Zuneigung zu den Windsors oder Shakespeare oder Jeremy Irons.
    Niemand rauchte an diesem Montagmorgen, dem vierten Februar. Ein Kreis von Kriminalisten hörte dem Bericht von Volker Thon zu, dem fünfunddreißigjährigen Leiter der Vermisstenstelle.
    »Die Eltern behaupten, sie haben keine Erklärung«, sagte er.
    »Die Kollegen in der PI 12, wo die Eltern die Anzeige aufgegeben haben, bezweifeln das. Konkrete Beweise gibt es nicht. Die Eltern haben das Verschwinden Sonntagmorgens bemerkt, gegen acht, es war der Geburtstag des Mädchens, sie wurde achtzehn. Wir sind also gezwungen, die Vermissung unter anderen Aspekten zu sehen als die Eltern.«
    »Und es ist sicher, dass Sachen fehlen?«, fragte Paul Weber, der Älteste in der Runde.
    »Das zumindest haben die Eltern zugegeben«, sagte Thon. »Das Mädchen hat eine dunkelrote Sporttasche mit dem Aufdruck ›Funster‹ mitgenommen…«
    »Fenster?«, fragte Tabor Süden.
    »Funster! Fun – Funster.«
    »Spaßig«, sagte Süden.
    »Ist dein Rasierapparat kaputt?«, fragte Thon. Süden schwieg.
    »Und dein Friseur gestorben?«, fragte Thon. Süden schwieg. Ob seine Friseurin noch lebte, wusste er nicht, sie hatte die Angewohnheit, ihre Chefin im Salon wochenlang allein zu lassen, um ihren Bruder in Berlin zu besuchen. Und jedes Mal, wenn sie zurückkam, wirkte sie noch ausgemergelter als vorher, und ihre Stimme hörte sich an wie nach einer missglückten Urschreitherapie. Seit Ende vergangenen Jahres hatte Viktoria nichts mehr von sich hören lassen, was Süden ein wenig beunruhigte, aber nicht störte, denn seine Haare hatten Wachserlaubnis, ebenso sein Bart, dieser allerdings nur bis zu einer Länge von etwa zwei bis drei Millimetern.
    »Streunen entfällt«, sagte Thon und rieb mit Daumen und Zeigefinger an seinem Seidenhalstuch. Außer einem Aktenordner und einem grünen Schnellhefter hatte er mehrere Din-A4-Blätter vor sich liegen. »Das Mädchen ist noch kein einziges Mal weggelaufen. Furcht vor Strafe? Noch nicht zu beurteilen. Hier steht, die Eltern haben ein offenes Verhältnis zu ihrer Tochter, und umgekehrt. Sagt der Vater. Einen Moment.«
    Er verglich die Blätter, zog die Stirn in Falten, kratzte sich mit dem Zeigefinger am Hals. Durch die schlecht isolierten Fenster drangen die Geräusche der Straße in den zweiten Stock. Über die
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