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Gott geweiht

Gott geweiht

Titel: Gott geweiht
Autoren: C.E. Lawrence
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sechseinhalb zeigten sich bei ihr bereits Lauras Esprit und Hang zur Ironie. Ein Fauchen ertönte, gefolgt von einem lauten »Au!« und dem Klappern eines umfallenden Stuhls. Kurz darauf kam seine Nichte an den Apparat.
    »Hallo, Onkel Lee.«
    »Hallöchen, Kylie. Was hast du denn da schon wieder mit der Katze angestellt?«
    »Wir haben nur gespielt.« Ihre Stimme klang vergnügt schuldbewusst.
    »Ach ja? Und was habt ihr gespielt?«
    »Öh … Verkleiden.«
    »Du hast Groucho verkleidet?«
    »Öh … ja.«
    »Hat ihm das Spaß gemacht?«
    »Nicht sehr. Er hat versucht wegzulaufen.«
    »Aber du hast ihn festgehalten?«
    »Ja – bis er mir in die Hand gebissen hat.«
    »Das hat bestimmt wehgetan.«
    »Mh-hm … Oma gibt mir ein Pflaster. Da ist Pu der Bär drauf«, sagte Kylie.
    »Ach, das ist ja nett. Hat Oma die gekauft?«
    »Mh-hm. Aber ich habe sie ausgesucht.«
    Lee hörte das Pfeifen des Wasserkessels und ging zurück in die Küche. »Wie schön. Ich wette, es tut schon gar nicht mehr weh.«
    »Ja.« Eine Pause. Sich mit einem kleinen Kind am Telefon zu unterhalten war Schwerstarbeit. Man musste ständig neue Themen finden, um das Gespräch in Gang zu halten. Während Lee heißes Wasser über den gemahlenen Kaffee goss, merkte er, dass sich erneut irgendetwas in seinem Hinterkopf regte und versuchte, sich in sein Bewusstsein zu drängen, doch er wusste immer noch nicht, was genau es war – ein Gedanke, eine Idee, irgendein Bild.
    »Gefällt es dir in der Schule?«, sagte er in den Hörer.
    »Öh, ja.«
    »Was gefällt dir denn am besten?«
    »Kunst. Ich habe heute Bilder von Mami gemalt.«
    »Ach ja?«
    »Ja. Wir sollten ein Bild mitbringen und das abmalen, und da habe ich eines von Mami aus dem Fotoalbum mitgebracht.«
    Es folgte ein anhaltendes Schweigen, und Lee fiel nichts ein. Er wusste, dass seine Mutter ein Album mit Bildern von Laura besaß, allerdings nicht, dass Kylie es kannte.
    »Und wenn sie wieder zurückkommt, kann ich es ihr zeigen.«
    Lee musste sich auf die Zunge beißen. Es war schlimm genug, dass seine Mutter Lauras Tod nie akzeptiert hatte, doch es machte ihn wütend, dass sie darauf beharrte, ihre grundlosen Hoffnungen an ihre Enkelin weiterzugeben.
    »Okay, wir sehen uns dann morgen. Kann ich jetzt noch mal mit Oma sprechen?«
    »Okay. Omi!«
    Seine Mutter kam wieder an den Apparat.
    »Ja, Schatz?«
    Am liebsten hätte Lee sie wegen ihres unverantwortlichen Verhaltens angeschrien, doch ihm fehlte die Energie. Er wollte nur noch ins Bett flüchten, die Decke über den Kopf ziehen und sich von der Außenwelt abschotten.
    »Ist noch was?«
    »Nein – ich wollte nur Tschüss sagen.«
    »Gut. Pass auf dich auf – und denk daran, etwas zu essen!« Mit diesen Worten beendete seine Mutter oft das Gespräch. Er hatte während seiner Depression so viel abgenommen, dass sie sich Sorgen machte.
    »Okay, mach ich. Tschüss.«
    Lee legte auf und nahm den Tassenfilter von seinem Becher. Wieder regte sich der Gedanke in seinem Hinterkopf und wollte sich nach vorn drängen. Lee gab einen Schuss Milch in seinen Kaffee und ging damit hinüber zum Fenstersitz. Es hatte mit Marie zu tun und gleichzeitig auch wieder nicht. Etwas in Bezug auf ihren Tod … aber was? Lee starrte hinaus in den grauen Februarmorgen. Es nieselte, und er sah, dass in der ukrainischen Kirche gegenüber Licht brannte. Schlagartig ging ihm auf, was den ganzen Morgen an ihm genagt hatte.
    Er griff zum Telefon und wählte die Nummer der Bronx Major Case Unit.

KAPITEL 4

    Auf dem Campus war es still wie im Grab . Der Gedanke kam Samuel in den Sinn, während er quer über den Innenhof auf das Wohnheim zuschlich, wo im Eckzimmer des Erdgeschosses ein einzelnes Licht brannte. Als er näher kam, erschauderte Samuel. Er hörte Musik – irgendetwas Klassisches, mit Flöten und Geigen. Ein paar andere Zimmer im zweiten Stock waren hell erleuchtet – hier wurde noch spät in der Nacht studiert, vermutete er.
    Er stand unterhalb der Fenster und schaute hinauf zu den Bewohnern der Zimmer. Drei Studentinnen, soweit er das erkennen konnte, saßen um einen niedrigen Tisch herum und unterhielten sich lachend. Er beobachtete, wie sich die jungen Frauen hinter den Fensterscheiben bewegten, ihre Umrisse verschwommen hinter den weißen Spitzengardinen, ihre Gesichter unscharf, wie in einem Traum. Warum wollten sie ihn nicht – warum begriffen sie nicht, wie einzigartig er war? Er wagte kaum, sie zu begehren, doch während er ihre weich gezeichneten,
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