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Gordon

Gordon

Titel: Gordon
Autoren: Edith Templeton
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Stellung her. Sie saßen auf unterschiedlichem Niveau, das linke Auge ein wenig höher als das rechte. Das musste es gewesen sein, was in mir diesen ersten Eindruck von Gemeinheit hervorgerufen hatte.
    Er war weder groß noch klein, schlank und schmalgliedrig, von einem unscheinbaren Körperbau, der mich nicht besonders beeindruckte; genauso wenig wie sein Gesicht, obwohl es die gleiche Faszination besaß, die von den unregelmäßigen, schroffen Umrissen einer romantischen Ruine ausgeht. Die Nase war hoch angesetzt und unregelmäßig, die Wangen hohl unter ausgeprägten Jochbeinen, die Lippen lang, das Kinn schön und fest gerundet. Das leicht gewellte jettschwarze Haar wuchs ihm tief in die breite Stirn und unterstrich die düstere Blässe des Gesichts wie Ranken von dunklem Efeu, die eine zerfallene Mauerkrone herabwallen.
    Ich wandte den Blick von ihm zur anderen Straßenseite, wo der wässerige Sonnenschein des Spätnachmittags auf dem Bürgersteig lag. Dann sah ich ihn wieder an. Jetzt lächelte er nicht mehr. Er betrachtete mich konzentriert.
    »Wir gehen in meinen Club in der Brook Street«, sagte er. »Da ist es ruhiger. Kommen Sie.«
    Wir überquerten die Straße und waren erst ein paar Schritte gegangen, als ich vor dem Schaufenster eines Antiquitätengeschäftes stehen blieb. Mein Begleiter blieb ebenfalls stehen. Der vertraute Anblick der Nippsachen, der Fächer, der Uhren, der Perlen, der Schnupftabaksdosen, auf einer Bahn von moirierter blauer Seide verstreut, die sich in schweren Falten von einer Sheraton-Kommode herab ergoss und im Vordergrund kleine Wellen bildete, wirkte auf mich tröstend und beruhigend.
    »Machen Sie sich etwas aus solchen Dingen?«, fragte er.
    »Ja«, sagte ich, »aber sie müssen schön sein. Ich mag Dinge nicht lediglich deswegen, weil sie alt sind. Sie müssen auch schön sein.«
    Er sagte wie zu sich selbst: »So, so. Alt und schön. Ja, ich verstehe.«
    Ich spürte, wie mir heiß wurde, und ärgerte mich über mein Erröten und fragte mich, warum er mich so verlegen machte. Ich bewegte mich nicht von der Stelle, sah aber nicht mehr auf den alten Plunder, sondern richtete den Blick jetzt auf das Glas selbst, in dem sich unsere zwei Gestalten spiegelten.
    In seinem dunklen Anzug und weißen Hemd sah er auf diese unaufdringliche, Vertrauen erweckende, nicht dandyhafte Weise gepflegt aus, die für die Adepten der Savile Row charakteristisch ist.
    Meinem Eindruck nach übte er einen akademischen Beruf aus und war das, was ich unter einem Gentleman verstehe; nämlich jemand, der auf der Schule Griechisch gehabt hat. Und doch, trotz der Korrektheit seiner Kleidung war da dieses Gesicht, das förmlich danach schrie, von einem spanischen oder neapolitanischen Meister des Tenebrismus porträtiert oder vom Rampenlicht des Theaters modelliert zu werden. Er hatte etwas von einem Schauspieler an sich, wenngleich nicht im abwertenden Sinne; ein erstklassiger Mann, der betont zurückhaltend spielte und seine Wirkung dadurch erzielte, dass er seinen Text ganz beiläufig sprach.
    Er ist Anwalt, sagte ich mir. Die meisten Anwälte haben eine theatralische Ader.
    »Ich hätte nichts dagegen, hier stundenlang zu stehen«, sagte er, »wenn Sie sich das Zeug ansehen würden. Aber während der letzten Minute oder so haben Sie an etwas völlig anderes gedacht. Haben versucht, mich einzuordnen.«
    »Das stimmt«, sagte ich.
    »Also könnten wir genauso gut weitergehen«, bemerkte er. »Hier lang. Kommen Sie.«
    »Tut mir Leid. Sie haben völlig Recht«, sagte ich. Und als er weiter neben mir herging, schweigend und ohne den Blick von mir zu wenden, wurde ich leichtsinnig und hatte plötzlich das Gefühl, dass ich etwas sagen müsste.
    »Sie haben völlig Recht«, wiederholte ich.
    »Es ist nur … wie ich uns in der Scheibe gesehen habe – in diesem Schaufenster … ich denke immer, dass ein Spiegel – und sich selbst darin gespiegelt zu sehen – etwas Unheimliches an sich hat.«
    »Ja«, sagte er. »Warum? Reden Sie weiter.«
    »Zum Beispiel Narziss«, sagte ich, »der sich in sich selbst verliebte und sich vor Kummer verzehrte und starb, weil er sich nicht selbst erreichen und sein Spiegelbild küssen konnte, als er es im Wasser sah. Das Wasser war natürlich sein Spiegel.«
    »Ja«, sagte er, »reden Sie weiter.«
    »Dann gab es den Zauberspiegel«, sagte ich, »der Männer dazu brachte, sich in Frauen zu verlieben, die sie darin gespiegelt sahen, nicht aber, wenn sie ihnen in Wirklichkeit
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