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Gordon

Gordon

Titel: Gordon
Autoren: Edith Templeton
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begegneten. Dann gab es den Mann, der sein Spiegelbild an einen Hexenmeister verkaufte und sich mit dem Mann anfreundete, der seinen Schatten an den Teufel verkauft hatte.«
    »Reden Sie weiter«, sagte er.
    »Abraham Lincoln blickte eines Tages in den Spiegel und sah sich selbst, wie er über die Schulter seines Spiegelbilds schaute, und er wusste, was das bedeutete – ein paar Tage später war er tot.«
    »Weiter. Was noch?«, fragte er.
    »Weiter ist nichts«, sagte ich, »und Sie kennen diese Geschichten ebenso gut wie ich.«
    »Aber Ihnen sind sie auffällig geläufig«, bemerkte er. »Wie kommt’s?«
    Er hatte Recht. Meine Vertrautheit mit diesen Geschichten war auffällig, und wenn ich es mir nicht seit einem guten Jahr zur Aufgabe gemacht hätte, Erzählungen über Spiegel zu sammeln, wären sie nicht so aus mir herausgesprudelt wie eben.
    Aber ich hatte nicht vor, ihm den Grund für dieses Interesse zu verraten, und so sagte ich: »Nun ja. Natürlich. Ich kenne sie schon, solange ich zurückdenken kann. Sie gefallen mir, weil sie seltsam sind.«
    »Aber wie können sie Ihnen seltsam vorkommen, wenn Sie sie schon immer gekannt haben?«, fragte er. »Das Vertraute ist niemals seltsam. Nur das Unbekannte ist seltsam.«
    Ich dachte: Mein Gott, ja. So seltsam wie Sie. Und Sie sind ganz schön seltsam. Und ich sagte mit einem befangenen Lachen: »Ja, so ist das wohl. Wirklich, Sie verwickeln mich hoffnungslos in Widersprüche.« Jetzt war ich mir sicher, dass er Anwalt war – er hatte diese Art, einen auf sein Wort festzunageln, bis man wie ein Idiot dastand.
    Er sagte: »O nein, das ist gar nicht meine Absicht. Mag sein, dass Sie sich in Widersprüche verwickelt haben, aber das liegt nicht an mir. Ich würde sagen, das liegt an Ihren Ängsten. Sie hätten sich nicht unterbrechen dürfen.«
    »Aber es gab nichts mehr zu sagen«, antwortete ich.
    »Es gab noch eine Menge mehr zu sagen«, meinte er, »und gibt es immer noch.«
    Wir waren gerade im Begriff, durch die Passage zu gehen, die zur Curzon Street führt, als ich auf die schmale Tür des Hauses neben dem Obstladen deutete und sagte: »Sehen Sie, da drin habe ich früher mal zwei Monate lang gewohnt. Vor dem Krieg. Es war das reinste Paradies. Die Wohnung gehörte einer Freundin meiner Mutter, die hinreißend schön war. Aber jetzt ist sie umgezogen, und ich habe sie seit Anfang des Krieges nicht mehr gesehen, und ich frage mich, wie sie jetzt wohl aussieht. Meine Großmutter war auch eine richtige Schönheit, und sie blieb selbst im Alter eine Schönheit.«
    Er sagte: »Ah ja. Das Alte und das Schöne. Wären wir also wieder bei dem Thema.«
    Ich sagte mir, dass ich mit ihm reden sollte, als sei er Major Carter. Ich sagte: »Das Shepherds ist die erste Stunde lang so weit ganz nett. Aber ab sechs ist es furchtbar überlaufen.«
    »Sind Sie oft da?«, fragte er.
    »Nein«, sagte ich, »ich bin seit Ewigkeiten nicht mehr da gewesen. Ich bin heute nur deswegen da hin, weil ich länger nicht in London gewesen bin. Mich ein bisschen umsehen und wieder die Atmosphäre des Lokals auf mich einwirken lassen.«
    »Es gibt auch andere Möglichkeiten, seinen Erinnerungen nachzujagen, man muss nur wissen, wie«, sagte er. »Wo sind Sie gewesen?«
    »In Hamburg, mit der Armee«, sagte ich. »Und davor war ich im Hauptquartier, in Westfalen, mitten in der Pampa. Ich habe allerdings nur ein Jahr gedient.«
    »Ich war auch in Deutschland«, sagte er, »und davor in Nordafrika, bei der Wüstenarmee«, und mit der vor Rührung zitternden Stimme eines alten Mannes fügte er hinzu: »Ein gerechter und edler Krieg, ausgefochten mit der Unterstützung unserer tapferen Alliierten«, und er produzierte eine Grimasse gespielter Fröhlichkeit – grauenvoll einladend und beängstigend vergnügt, wie ein Krokodilslächeln.
    »Ja«, sagte ich lachend und dachte wieder über diese unheimliche, sardonische Schauspielerart nach, die er an sich hatte. Es gab eine Rolle, für die er wie geschaffen war – jetzt wusste ich es; sie war ihm »auf den Leib geschrieben«, wie Reggie Starr gesagt hätte: der Filmregisseur, mit dem ich ein Jahr lang zusammengelebt hatte, bevor ich nach Deutschland gegangen war. Er hätte ohne jede Maske auftreten können. Es war natürlich die Rolle des Mephisto im Faust, die Rolle der zerstörerischen, spöttischen Intelligenz.
    Aber Mephisto hat überhaupt nichts Böses an sich, und er ist ein glänzender Gesellschafter, und ich machte mir Vorwürfe, dass ich
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