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Goodbye Leningrad

Goodbye Leningrad

Titel: Goodbye Leningrad
Autoren: Elena Gorokhova
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ärmelloses Shirt über ihre Brust hochzog, zuckte meine Mutter zusammen und erstarrte. Ich wusste, was sie dachte. Sie hatte die ganze Zeit |412| recht gehabt, wenn sie nachts wach dalag und die Schlagzeilen der Zeitungen nach transatlantischen Nachrichtenbrocken durchforstete: Amerika war tatsächlich, wie es in der ›Prawda‹ hieß, ein Haifischmaul.
    Seitdem ist viel geschehen. 1991 sahen wir auf CNN die Barrikaden auf dem Roten Platz und trauten unseren Augen nicht, als Boris Jelzin vor dem Moskauer Parlament, dem sogenannten Weißen Haus, auf einem gepanzerten Wagen stand und seinen Arm in die Zukunft reckte. Danach schrumpfte die Landkarte der Sowjetunion an ihren Rändern immer weiter, Leningrad wurde wieder zu Sankt Petersburg, und die ›Prawda‹ wurde eingestellt. Das Englische Seminar meiner Universität gründete einen privatwirtschaftlichen Fachbereich, in dem der Englischunterricht nicht länger kostenlos ist; der Dekan wachte nicht länger über die Einhaltung der Parteistatuten, sondern investierte in privatisierte Ölfirmen. Marina antwortete auf eine Kontaktanzeige in einer Zeitung aus Louisiana und heiratete einen netten Mann, der ihre Koch- und Nähkünste liebt. Sie hat die Schauspielerei aufgegeben und setzt ihr Talent nunmehr in einem Vorort von New Orleans beim Anbau von Dattelpflaumen und Tomaten ein. Die Gebühren für internationale Telefonate sind von drei Dollar pro Minute auf zwei Cent gesunken.
    Meine Mutter hortet nach wie vor Papierservietten und Plastiktüten aus der Obst- und Gemüseabteilung des Supermarktes und stapelt sie fein säuberlich gefaltet unter ihrem Bett. In ihrer Wohnung im Souterrain liest sie Erinnerungen an den Großen Vaterländischen Krieg und sieht den russischen Fernsehsender
Kanal Eins
, der wieder genauso unter der Kontrolle der Regierung ist wie zu der Zeit, als ich noch dort lebte. Zwischen Nachrichtensendungen aus Moskau und Milizdramen füllt sie ein Heft mit Begebenheiten aus ihrer Vergangenheit. |413| Allwöchentlich telefoniert sie mit ihrer Schwester Musa und ihrer Stieftochter Galja in Russland und erzählt ihnen alles über unser hiesiges Leben. Sie berichtet ihnen von der Feier zu ihrem fünfundneunzigsten Geburtstag, zu der Marina hergeflogen ist und zwei Tage lang gekocht hat; sie schickt ihnen Pakete mit Handschuhen und Pullovern, den notwendigen warmen Sachen.
    Sie braucht nicht länger zu kontrollieren oder zu beschützen. Es gibt weder Volkskommissare noch irgendwelche Warteschlangen, in denen man einander anrempelt; es gibt weder den KGB noch einen Mangel an Mayonnaise. Doch alte Gewohnheiten lassen sich nicht so einfach ablegen, und wenn aus dem tiefen Faltenkranz die Augen meiner Leningrader Mutter hervorfunkeln, ertappe ich mich dabei, wie früher reagieren zu wollen. Jedes Mal, wenn ich den Einkaufswagen mit Buchweizen und Hüttenkäse volllade, erkundigt sie sich nach den Preisen und prüft die Belege auf mögliche Fehler, darauf gefasst, von gierigen Kassiererinnen an der Nase herumgeführt worden zu sein. Wenn wir in dreister Missachtung des mit lauter guten Lebensmitteln gefüllten Kühlschranks ein Restaurant aufsuchen, wirft sie uns einen schiefen Blick zu. Meine Mutter ist jedoch ausgesprochen praktisch veranlagt. Sie weiß, dass ihr Leben gut ist, und wie sie zu sagen pflegt: »Wenn alles gut ist, sieht man sich nicht nach Besserem um.« Zu den Feiertagen kauft sie uns Grußkarten mit Welpen und Rosen. Um mir zu helfen, schneidet sie Rezepte für schnelle Gerichte aus und stapelt sie auf der Arbeitsplatte in der Küche, zusammen mit guten Ratschlägen für College-Absolventen wie meine Tochter, die sie in der in Brooklyn veröffentlichten russischsprachigen Zeitung entdeckt hat.
    Heute bin ich diejenige, die sich um Schals und Schulen, Suppe und Ordnung Sorgen macht. Ich bin diejenige, von der |414| erwartet wird, dass sie beschützt und kontrolliert. In meinem Kopf sprießen Bilder von einem perfekten Leben, in mustergültigen Reihen wie unsere Datscha-Erdbeeren. Ich möchte, dass meine Tochter Russisch spricht, Turgenjew liest, Puschkins Gedichte genauso auswendig lernt wie einst wir in der Schule. Ich möchte, dass sie das Theater liebt und nächtelang in der Küche sitzt und sich über persönliches Glück und den Sinn des Lebens auslässt. Ich möchte sie mit dem Russland-Bazillus infizieren, damit sie aufhört, Amerikanerin zu sein, und so wird wie ich.
    Aber das tue ich nicht. Die Muttersprache meiner Tochter ist
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