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Goodbye Leningrad

Goodbye Leningrad

Titel: Goodbye Leningrad
Autoren: Elena Gorokhova
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Flughafen zu fahren, trifft um halb drei ein, zehn Minuten zu früh. Als Marina die Tür öffnet, sehen wir nur einen riesigen Blumenstrauß, den Gris vor sein Gesicht hält.
    »Hier, gib her.« Meine Mutter läuft mit einer Vase aus der |404| Küche herbei. »Päonien sind sehr empfindlich; sie kommen nicht lange ohne Wasser aus.« Sie stellt die Blumen auf den Tisch in dem Raum, in dem mein Schreibtisch und Marinas Sofa stehen. Jetzt ist es wieder allein Marinas Zimmer.
    Ich überprüfe den Inhalt meiner Handtasche: mein Pass, der noch immer nach der Druckerpresse riecht; das Aeroflot-Ticket, ein glänzendes, rechteckiges Heft mit roten Seiten aus Durchschlagpapier; einhundertdreißig Dollar, der zulässige Betrag an ausländischer Währung für Ausreisende, die ich gestern in dem leeren Gewölbe der Zentralbank eingetauscht habe.
    Mein Koffer steht neben der Tür; alles ist fertig. Wir stehen verlegen und unschlüssig im Flur.
    »Also, dann lasst uns gehen«, sagt meine Mutter.
    »Wohin willst du gehen, ohne dich vorher hinzusetzen?«, fährt Marina sie an. Ein abergläubischer Brauch, mit dem man jemandem eine gute Reise wünscht und die Hoffnung ausdrückt, dass derjenige eines Tages zurückkehrt: Alle sitzen eine Minute lang schweigend da; der Jüngste in der Runde steht als Erster wieder auf.
    Meine Mutter, Marina und ich sitzen auf dem Sofa in Marinas Zimmer, Gris auf der Kante des Stuhls vor dem Schreibtisch. Meine Mutter sieht mich an; Marina betrachtet mit bühnenreifer Konzentration die Blumen auf dem Tisch; Gris starrt auf den Boden. Ein Krankenwagen   – oder ein Wagen der Miliz   – heult in der Ferne, wobei seine Sirene immer lauter wird, als er um die Ecke biegt und unter unseren Fenstern vorbeirast.
    Marina gibt mir ein Zeichen, dass ich aufstehen soll. Wir drängen uns im Flur, unsere Schultern stoßen aneinander, Schlüssel klirren, Türen öffnen sich. Eine sinnlose Aufregung, Chaos im allerletzten Moment.
    Gris nimmt meinen Koffer und trägt ihn zum Fahrstuhl.
    Im Hof, wo Kinder aus meinem ehemaligen Kindergarten |405| im Sandkasten spielen, blicke ich auf zu dem Himmelsquadrat, zu den vorüberziehenden massigen weißen Wolken, die einen flüchtigen Schatten werfen. Ein Mädchen mit zwei dünnen Zöpfen hört auf, im Sandkasten zu graben, und starrt auf den Sonnenkreis, der durch die Wattewolke hindurchstrahlt.
    Gris lädt meinen Koffer in den Wagen und öffnet uns die Türen. Meine Mutter als Älteste sitzt vorne. Gris fährt langsam am Sandkasten vorüber und lenkt das Auto durch den Torbogen auf die Straße.
    Mit einer Hand am Steuer schlängelt er sich auf dem breiten Moskowski-Prospekt, der keinerlei Fahrbahnmarkierungen aufweist, durch den Verkehr, um Straßenbahnen und Lastwagen herum. Die Menschen stehen an den Bushaltestellen in der Schlange, kommen mit schweren Einkaufsnetzen aus Lebensmittelläden. Kinder gehen an den Händen ihrer Eltern zu Bibliotheken und Klavierstunden. Ein Dienstagnachmittag wie jeder andere.
    Die wuchtigen Gebäude entlang der breiten Straße werden zu schuhkartonartigen Wohnblöcken und gehen dann über in kahle Felder, auf denen hier und da gewerblich genutzte Gewächshäuser stehen. »Sommer«, steht auf einem riesigen Schild, der Name einer Gemüsefabrik, vor der sich gelegentlich lange Schlangen für wässrige Gurken und gelbe Dillbüschel bilden. Während das Schild langsam in der Ferne verschwindet, macht die Straße eine Biegung nach rechts, wo am Horizont der Flughafen Pulkowo mit dem Trakt für internationale Flüge auftaucht.
    Nina ist bereits da, um mich zu verabschieden, einen Fächer aus Zollerklärungen in der Hand. Ich mache die unvermeidlichen Angaben: ein goldener Ehering, das silberne Armband, das mir der britische Junge namens Kevin geschenkt hat, als ich in der achten Klasse als Fremdenführerin arbeitete, eine |406| Bankquittung über Devisen in Höhe von einhundertdreißig Dollar. Der internationale Terminal ist dunkel und eng, ein kleiner Seitenflügel, der für Auslandsflüge abgetrennt worden ist. Ich werfe einen Blick auf die Zollerklärung und versuche, die winzigen Buchstaben zu erkennen, die mich davor warnen, Rubel, Edelmetalle oder Kunstwerke auszuführen.
    »Das Check-in für den Flug nach Moskau mit dem Anschlussflug Nummer 37 nach Washington beginnt.« Die monotone Stimme aus dem Lautsprecher klingt so gedämpft, als ertönte sie unter Wasser. Seit dem Einmarsch in Afghanistan darf Aeroflot nicht mehr in New York landen,
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