Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Goodbye Leningrad

Goodbye Leningrad

Titel: Goodbye Leningrad
Autoren: Elena Gorokhova
Vom Netzwerk:
einen hoffnungslosen Fall hält. »1963 wurde in Dallas, Texas, ein amerikanischer Präsident umgebracht. Wussten Sie das nicht?« Inzwischen wirkt er ganz vertraut, eine Autorität, die einem Untergebenen eine Strafpredigt hält. »
Ihr
Präsident. Sie sollten mal Ihre Geschichtskenntnisse etwas auffrischen.«
    Mir ist schleierhaft, woher ich wissen soll, was in Amerika geschah, als ich acht Jahre alt war, wenn ich doch noch nicht einmal herausfinden kann, was heute dort geschieht. Dabei hat er recht: Ich weiß über die Geschichte meines neuen Landes genauso wenig Bescheid wie über alles andere auch.
    Dekan Maslow kehrt an seinen Schreibtisch zurück, zu seinen herumliegenden Papieren und seiner Pfeife. Er muss etwa Mitte sechzig sein, so alt wie meine Mutter, demnach hat er ebenfalls die chaotische Zeit nach der Revolution und beide Kriege erlebt. Vielleicht hat er deshalb versucht, mich vor Amerika zu warnen. Wie meine Mutter stammt auch er aus der ersten sowjetischen Generation, aus der Zeit, als das
wranjo
noch ganz frisch, noch ein kleiner, eingerollter Spross war. Er stammt aus einer Zeit, als es seine Gestalt noch nicht verändert und Metastasen entwickelt und sich durch unser Gewebe vorgearbeitet hat, wie das Krebsgeschwür meines Vaters, das sich einen Weg in Blase und Lungen bahnte. Als es noch nicht |397| durch jeden Millimeter unseres Fleisches gekrochen war   – jene Lüge, bei der mein Vater mitmachte, nachdem er seine Zähne wegen Skorbut verloren hatte, und die meine Mutter über dem Organisieren von Gewerkschaftszusammenkünften und Beerdigungen kaum bemerkte. Vielleicht spielte Dekan Maslow ja dasselbe Brotkrümelspiel, das meine Großmutter   – jedermanns Großmutter   – während der Hungersnot erfand; vielleicht hatte auch er erlebt, wie ein Stück Brot zu einem ganzen Haufen Krümel anwuchs.
    Er betastet seine Jackentaschen auf der Suche nach der Streichholzschachtel, blinzelt mit seinem gesunden Auge und zündet seine erloschene Pfeife an   – weder Pirat noch Gelehrter oder gar Führungspersönlichkeit   –, ein alter Mann, der bereit ist, für neunzig Rubel im Monat in Rente zu gehen.
    Mir kommt ein verrückter Gedanke: Genau darauf läuft alles hinaus   – auf einen Haufen Krümel.
    Ich stehe auf und schließe leise die Tür hinter mir. Das Pro-forma-Gespräch hat stattgefunden.
     

    Ich sitze in einem Bus und umklammere meine Handtasche, in der mein Ausreisevisum und ein Aeroflot-Ticket nach Amerika stecken. Das Aeroflot-Büro am Newski-Prospekt war wie immer leer, da es ausschließlich für internationale Reisen zuständig ist. Ich ging hinein und bat um ein Ticket in die Vereinigten Staaten. Das Mädchen, das auf einem hohen Stuhl hinter dem Schalter hockte, taxierte mich mit starrem Blick, die Augen betont mit importierter Wimperntusche, die nicht mit Spucke vermischt werden muss, und prüfte mein Visum, während |398| ich auf ihr Kinn starrte. Nachdem sie mit meinem Pass im Hinterzimmer verschwunden war, um ihren KG B-Vorge setzten zurate zu ziehen, stellte sie ungehalten und unwillig ein Ticket aus, in ihrer makellosen Behördenhandschrift, die allein ausländischen Zielen vorbehalten war.
    Ich steige drei Bushaltestellen früher aus als gewöhnlich und gehe durch das Dämmerlicht eines Augustabends nach Hause. Ich überquere den Theaterplatz, vorbei an dem Denkmal für unseren Komponisten Glinka, vorbei an einem Aushang des Kirow-Theaters, auf dem für den kommenden Tag eine Vorstellung der Oper ›Oktober‹ angekündigt wird. Meine Mutter und ich haben sie gesehen, als ich acht war, also steht sie dort seit mindestens siebzehn Jahren auf dem Spielplan. Im zweiten Akt dieses alten ›Oktober‹ streckte ein Schauspieler mit Spitzbart und Glatzenperücke in Lenin-Manier den Arm aus und verkündete den Sieg der Oktoberrevolution, nachdem die Menschheit den Glauben an den Zaren verloren, ein Soldatenchor Gewehre auf den Winterpalast gerichtet und eine Vierergruppe aus Kindern um etwas zu essen gebettelt hatte. Die Menge auf der Bühne jubelte, und dann hob sich Lenins Brust, als er tief einatmete, um einen hohen Ton zu trällern, der alles bisher Dargebotene noch übertrumpfen sollte. Und zwar alles, vom ersten verärgerten Bauern über die Meute von Matrosen, die auf dem Winterpalast eine rote Fahne gehisst hatte, bis hin zur Limonade und zu den Éclairs im Theaterbüfett während der Pause. Eine Sekunde lang schwankte die Note auf der Schwelle zum erhofften Erfolg, um
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher