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Goodbye Leningrad

Goodbye Leningrad

Titel: Goodbye Leningrad
Autoren: Elena Gorokhova
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befestigten behördlichen Anordnungen zu finden sind.
    Er zieht an seiner Pfeife und blinzelt   – ob aus Vergnügen am Rauchen oder aus Empörung über mich, vermag ich nicht zu sagen.
    »Ist es nicht jammerschade   – sobald wir eine ordentliche Studentin, eine Anwärterin auf ein Aufbaustudium, herangezogen |394| haben, schnappt der Westen sie uns weg. Zu dumm aber auch. In Zukunft werden wir größere Vorsicht walten lassen müssen, wenn wir für den Unterricht amerikanischer Studenten junge alleinstehende Frauen einstellen.«
    Ich weiß, das ist eine Drohung; nicht an mich gerichtet, sondern an künftige Fremdsprachenstudentinnen, die sich für den Sommer als Lehrkraft bewerben. Das bedeutet, dass solche Stellen in Zukunft nur noch an verheiratete Frauen vergeben werden, vorzugsweise an KG B-Funktionärinnen , wie die Leiterin des amerikanischen Programms.
    »Alle wollen nach Amerika.« Als er den Arm in die Höhe schnellen lässt, zieht seine Pfeife eine Rauchspur hinter sich her. »Amerika, Amerika   – heißt es immer wieder. Amerika, das Paradies. Amerika, das Land des Überflusses. Erdbeeren im Winter und für jeden Bürger ein Auto.«
    Er hält inne und starrt mich mit seinem gesunden Auge an.
    »Ich gehe nicht wegen der Erdbeeren im Winter fort«, sage ich, da er erwartet, dass ich etwas sage. »Noch nicht mal wegen eines Autos.«
    »Noch nicht mal wegen eines Autos, wie?« Er reckt den Hals, wie um mich besser sehen zu können. »Warum denn dann?«
    Obwohl er gewieft genug ist zu wissen, dass ich ihm nicht die Wahrheit sagen werde, lehnt Dekan Maslow sich zurück und wartet auf meine Antwort. Sein Blick gleicht dem meiner ehemaligen Schulkameradin Nadja, der ich am Tag zuvor zufällig auf der Straße begegnet bin. Nadja ist jetzt ein
refusenik
: Sie ist Jüdin, und vor neun Monaten wurde ihr Ausreiseantrag von der örtlichen Visumabteilung abgelehnt. Ihre Eltern, ihre Großmutter und ihr Mann stehen nun auf der schwarzen Liste und werden gemieden. Ich habe Schuldgefühle, dass ich ausreisen darf und sie nicht. Es ist mir zu peinlich, ihr gegenüber einzugestehen, dass der wahre Grund für meine Ausreise nichts |395| mit dem Wunsch nach politischer Freiheit zu tun hat, sondern mit meiner Mutter zusammenhängt. Wenn Boris mich vor zwei Jahren gefragt hätte, ob ich ihn heirate, wäre ich in den erstbesten Zug gestiegen, der mich ins tausend Kilometer entfernte Kiew gebracht hätte.
    »Ich habe geheiratet«, sage ich. »Manche heiraten und gehen fort.«
    Der Dekan legt seine Pfeife in einem schweren Kristallaschenbecher auf seinem Schreibtisch ab und erhebt sich. Er hatte nicht ernsthaft mit einer Antwort gerechnet. Gemäß den Vorschriften muss er in einem Buch abhaken, dass dieses Gespräch stattgefunden hat.
    »Wohin genau in Amerika?«, fragt er, während er in irgendwelchen Unterlagen auf seinem Schreibtisch blättert.
    »Nach Texas.«
    »Ah, in das Land, in dem Präsidenten umgebracht werden.« Er geht zum Bücherregal, bleibt davor stehen und lässt seine Finger über die Buchrücken gleiten. »Na, dann viel Glück.« Ich habe keine Ahnung, wovon er spricht. »Ich bin in Amerika gewesen, wissen Sie«, sagt er. »Ich habe dort ein Jahr lang gelebt   – ein kultureller Austausch Anfang der sechziger Jahre. Ein faszinierender Ort.« Dekan Maslow steckt seine Hände in die Taschen und schaukelt auf seinen Füßen vor und zurück, den Blick nach draußen gerichtet, wo sich vor dem Fenster an den Zweigen der Pappel kleine klebrige Blätter entrollen. »Nur darf man dort nicht entlassen werden oder krank oder alt sein. Es gibt dort kein soziales Netz, kein Kollektiv, das einem hilft. Man steht ganz allein da.« Er lächelt zum ersten Mal, wenn auch nur andeutungsweise. »Seitdem bin ich dankbar für meine garantierte Neunzig-Rubel-Rente.«
    Genau damit hatte ich gerechnet, dass man sich über Kollektive und Neunzig-Rubel-Renten unterhalten würde, obwohl |396| ich eigentlich angenommen hatte, dass Dekane aufgrund ihrer in ideologischer Hinsicht höchst heiklen Position mehr als neunzig Rubel bekämen. Ich hatte angenommen, dass Maslow diese Unterredung auf eine scharfe Rüge beschränken würde, vielleicht auch auf einen wütenden Vorwurf wegen der unnötigen Vergeudung staatlicher Mittel auf meine Ausbildung.
    »Was meinen Sie damit, ›das Land, in dem Präsidenten umgebracht werden‹?«, frage ich.
    »Wissen Sie das denn nicht?« Er wiegt den Kopf hin und her, um auszudrücken, dass er mich für
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