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Goodbye Leningrad

Goodbye Leningrad

Titel: Goodbye Leningrad
Autoren: Elena Gorokhova
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wüsste ich schon, was ich damit machen würde.«
    Dann folgt eine Pause, man hört nur das Scheppern von Kochtöpfen. Am liebsten würde ich hineingehen und meiner Mutter sagen, dass ich weder betteln noch unter einer Brücke schlafen werde.
    »Und wie soll dieser kurzsichtige Schriftsteller für sie sorgen?«, fragt meine Mutter. »Er studiert doch noch, oder? Gibt es dort drüben Stipendien für Studenten?«
    »Woher soll ich das wissen?«, faucht Marina mit leiser Bühnenstimme. »Sie braucht sein Stipendium nicht. Sie spricht Englisch. Sie wird schon zurechtkommen.«
    Ich höre meine Mutter erst seufzen, dann schniefen.
    Ich stecke meinen Kopf durch die Küchentür. »Hast du’s gehört?«, sage ich. »Ich werde schon zurechtkommen. Versprochen.« Ich richte mich auf und hebe den gebeugten rechten Arm zum Pioniergruß. Meine Mutter schüttelt den Kopf und schnäuzt sich die Nase, doch ich sehe, wie sich auf ihren Lippen ein leises Lächeln abzeichnet.
    Ich gehe zurück in den durch die nasse Wäsche unterteilten Raum zu meinem halb leeren Koffer. Ich packe das rot eingebundene ›American Heritage Dictionary‹ ein, ein Geschenk von Robert, nach einer Levis-Cordhose mein zweitwertvollster |402| Besitz. Von der Kommode nehme ich ein paar Parfümfläschchen, die ich mit dem Honorar für meine Privatstunden erworben habe. Ich wickle sie vorsichtig einzeln in Zeitungspapier ein und lege sie zwischen die Blusen.
    Zwanzig Kilogramm Gepäck sind auf Aeroflot-Flügen zugelassen, also ist noch Platz für Geschenke: russische Mitbringsel für Robert und seine Familie, die meine Mutter und meine Schwester auf dem Sofa zurechtgelegt haben. In
Chochloma - Technik
rot und gold bemalte Holzlöffel, schwarze Metalltabletts mit Rosen, Tischtücher aus Leinen mit passenden Servietten. Auf dem Fernseher prangt ein Samowar aus Chrom, den meine Mutter über ihre Beziehungen in der Medizinerschaft besorgt hat, ein Geschenk, das mitzunehmen ich mich geweigert habe. Ich sah mich schon auf einem amerikanischen Flughafen, in Tücher und Schals gewickelt, lauter mit Bindfaden verschnürte Samowar-Kartons schleppen.
    Ich bin gerade fertig mit Packen, als Marina ins Zimmer kommt. Sie glättet die Laken auf der Leine, schließt meinen Koffer und stellt ihn auf den Boden. Wir hocken schweigend in der Sofaecke, dort ist das Licht wegen der Wäsche auf der Leine gedämpft.
    »Was meinst du, wie ist Amerika wohl wirklich?«, frage ich.
    Nachdenklich starrt sie auf meinen Koffer. »Wie ein Korridor aus Licht«, sagt sie. »Du weißt schon, das, was die Menschen angeblich sehen, bevor sie sterben   – dieses gleißende Licht, ein Durchgang zu etwas anderem.«
    Ich weiß nicht, warum ich Marina frage, die so abergläubisch ist und alles glaubt, was unsere Zigeunernachbarin auf der Datscha ihr erzählt, wenn sie ihre Karten legt. Ich weiß nicht, warum ich auf meine Schwester höre, die die Nikolaus-Marine-Kathedrale zwei Straßen weiter aufgesucht und fünf Rubel bezahlt hat, um sich von einem betrunkenen Scharlatan mit |403| fettigem Haar taufen zu lassen. Genauso wenig bin ich ihr für diesen zweifelhaften Vergleich dankbar. Ich habe nicht vor, schon morgen zu sterben. Im Gegenteil, soweit ich es beurteilen kann, fängt mein Leben gerade erst an.
    Sie blickt mir ins Gesicht und rückt näher. »Dieses Licht ist unsere lichte Zukunft«, sagt sie. »Die Zukunft, die man uns seit dem Kindergarten, seit 1917 und dem Sturm auf den Winterpalast verheißen hat. Nur hat uns niemand gesagt, dass sie sich auf der anderen Seite des Atlantiks befindet.«
    Wir sitzen einen Moment lang reglos da.
    »Das musst du Mama erzählen«, sage ich. »Das mit der lichten Zukunft.«
    Sie nickt und legt ihren Arm um meine Schultern.
    »Es macht mir Angst, wie der erste Schultag«, sage ich. »Es ist wie in der ersten Klasse, als ich sieben war. Alle trugen weiße Schürzen über ihren Uniformen, nur ich nicht, weil ich nichts davon wusste   – und Mama hatte mir nichts gesagt; vielleicht wusste sie es auch nicht   –, deshalb trug ich wie üblich Schwarz. Ich stand als Einzige in Schwarz inmitten einer Menge aus Weiß und wusste noch nicht einmal, wie meine Lehrerin aussah, wusste noch nicht einmal, wohin ich gehen musste. Mit einem albernen Strauß Gladiolen, den Mama mir in die Hand gedrückt hatte.«
    »Bestimmt von unserer Datscha«, sagt Marina und rückt noch näher.
    »Ja«, sage ich. »Woher sonst?«
     
    Gris, der sich bereit erklärt hat, mich zum
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