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Goodbye Leningrad

Goodbye Leningrad

Titel: Goodbye Leningrad
Autoren: Elena Gorokhova
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beiseiteschiebt. Ich kann nur einen Teil von Mama sehen, einen kleinen Ausschnitt ihres Gesichts, ihre Hand, die mit einem Taschentuch ihr Auge trocken tupft.
    Wenn mein Vater noch am Leben wäre, würde er dann neben ihr stehen, mir zum Abschied zuwinken und mir versichern, dass ich nicht unter einer Brücke landen werde? Oder würde er in der Datscha eines Freundes vor Wut schäumen, weil ich fortgehe, und sich so verhalten wie damals nach meiner Geburt? |409| Er sei ein sturer Esel gewesen, behauptet meine Mutter, genauso stur wie ich. Ich denke an den Traum, den ich träumte, als ich acht Jahre alt war, in dem er in seinem Ruderboot saß und über das Theater sprach, über das Publikum, das, kurz bevor der Vorhang aufgeht, die Luft anhalte und ganz still werde. Die Vorahnung des Magischen, nannte er es, die Erwartung der Illusion. Der Augenblick, wenn alle Geräusche verstummten. Der Augenblick, wenn man nicht länger gewöhnlich sei.
    Ich frage mich, ob er im echten Leben irgendetwas von Magie verstanden hat. Hätte er, mein unbekannter Vater, diesen Augenblick erkennen können?
    Kann ich es?
    »Gehen Sie weiter, los«, befiehlt eine Grenzkontrolleurin und drängt mich zu einem Metalldetektor, der nicht funktioniert. Aber wir müssen so tun, als würde er funktionieren, und so trete ich folgsam durch den Metallbogen, der es gut mit mir meint und schweigt. Als ich fertig bin, wendet sich die Grenzbeamtin zwei britisch aussehenden Ladys in Hosenanzügen zu und gibt ihnen mit Handzeichen zu verstehen, dass sie dasselbe Spiel spielen sollen.
    Ich stehe auf der anderen Seite der Welt und blicke zurück, nehme Abschied. Ich denke an die dicken Wattewolken, die über die Stadt hinweg in Richtung Ostsee treiben und über unserem Hof verweilen. Ich denke an pockennarbige Wände, rußbedeckte Fensterbretter, marode Treppen, die zu für immer verriegelten Türen führen. Ich denke an den verwahrlosten Sandkasten in der Mitte des Spielplatzes. Auf seiner Einfassung hockt ein kleines Mädchen mit Zöpfen. Ich kenne dieses Gesicht: leicht schräg gestellte, grüne Augen, wie sie bei jedem Russen den Tropfen tartarischer Herkunft erkennen lassen; blasse Sommersprossen, als hätte ihr jemand schmutziges Wasser ins Gesicht gespritzt.
    |410| Sie blickt zu mir hoch, und die Schleifen an ihren dünnen Zöpfen flattern wie Schmetterlinge. Ich gehe neben ihr in die Knie, doch die Sommersprossen werden dunkler, eine rosige Röte flutet über ihre Wangen, und der Blick aus ihren schräg gestellten Augen weicht dem meinen aus. Sie ist angespannt und distanziert, wie die reglosen Linden hinter ihr, wie dieser stumme Hof, wie das vor der Zeit gealterte Leningrad. Ein Schwarm Tauben, die im Schmutz herumpicken, heben ihre Flügel und schwingen sich mit erschreckend lautem Geflatter in die Höhe, wo der Wind an den Dachfirsten rüttelt. Wir hocken dort im Sandkasten, auf verschiedenen Seiten der Welt, in einer Zeitschleife gefangen   – und warten beide, blicken beide zum Himmelsquadrat über dem Hof empor und fragen uns, was sich wohl jenseits davon befinden mag.
    Als ich mich noch einmal umdrehe, sind meine Familie und meine Freunde nicht mehr zu sehen. Alles, was ich durch das Hufeisen des kaputten Metalldetektors erkennen kann, alles, was von meinem Land noch übrig bleibt, ist spiegelndes Glas.

|411| Epilog
    Meine Mutter geht durchs Haus und löscht überall das Licht. Sie räumt die Geschirrspülmaschine aus, fegt das Laub von der Veranda und füttert den Hund. Sie kam vor dreiundzwanzig Jahren hierher, als ich durch die letzten Wochen meiner Schwangerschaft watschelte. Ihr Haar ist inzwischen so weiß wie früher unser Hof im Winter. Meiner Schwester zufolge war meine Scheidung von Robert   – unsere unterschiedlichen Gehirne, die Hitze und Fremdheit von Texas   – der Auslöser für den plötzlichen Wandel ihrer Haarfarbe. Meine zweite Heirat, zudem mit jemandem, den sie nicht kannte, meinem heutigen Ehemann seit nunmehr neunundzwanzig Jahren, machte es nicht besser. Niemand konnte glauben, dass das braune Haar meiner Mutter binnen eines Monats weiß wurde und wieder seine ursprüngliche Farbe annahm, als sie bei uns in Nutley, New Jersey, einzog.
    Als wir auf dem Heimweg vom Kennedy Airport, wo sie im Juni 1988 gelandet war, durch Manhattan in Richtung Lincoln-Tunnel fuhren, näherte sich unserem Wagen an einer Ampel auf der 42nd Street eine junge Frau in engen Shorts. Mein Mann blickte zu ihr hinüber, und als sie ihr
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