Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Goldfieber

Goldfieber

Titel: Goldfieber
Autoren: Andreas Gößling
Vom Netzwerk:
oder Arm. Zu fünfzigst oder sechzigstschleppen sie ein ungeheures hölzernes Trumm mit sich, das gegen dreißig Fuß lang ist und kaum weniger breit.
    Eine bewegliche Brücke!, wird mir klar – offenbar rechnet unser Herr damit, dass Cuitláhuacs Krieger die Holzbrücken aus den Dammwegen entfernt haben, damit wir nicht heimlich fliehen können. Also haben unsere Zimmerer aus Palasttüren und Deckenbalken einen Steg gebaut, um die Lücken im Dammweg zu überwinden. Doch dieses Trumm zu tragen ist offenkundig mühsam, und bevor man eine weitere Bresche damit schließen kann, muss erst die ganze Kolonne darüber hinweggezogen sein.
    Hinter den Fußsoldaten entdecke ich nun unsere Priester, außerdem Marina und zahlreiche andere Frauen, Diego und weitere Pagen. Eben will ich aus dem Graben hervorklettern und mich unauffällig unter sie mischen, da fällt mein Blick auf Cortés.
    Er sitzt hoch aufgerichtet auf seinem Schimmelhengst, dessen Hufe wie bei allen anderen Pferden mit Filztüchern umwickelt sind. Seine Haltung ist noch stocksteifer als gewöhnlich – wie niedergeschlagen er ist, sieht ihm wahrscheinlich niemand an außer mir. Und mein Herz – verzeih mir, Carlita! – mein Herz jubelt ihm zu!
    Ihr seid wieder bei uns, mein geliebter Herr, so rufe ich im Stillen – ich wusste, dass Ihr Narváez besiegen würdet! Und dass Ihr uns niemals im Stich lassen würdet, wusste ich sowieso! Aber wie soll es nun weitergehen? Wie ist es um die strahlende Zukunft bestellt, die Ihr für Euch selbst und uns alle vorausgesehen habt?
    So begrüße und befrage ich ihn still für mich, und der Moment, um mich unbemerkt einzureihen, ist längst verstrichen. Weiterhin hocke ich im Graben, der Regen strömt auf mich herab. Hinter unserem Herrn reitet sein Schatzmeister Escobar, der vier kräftige Stuten am Zügel führt. Die Pferde sind mit Kisten und Säcken beladen und durch das Dröhnen der unzähligen Sohlen und Hufe hindurch höre ich es leise scheppern und klirren. Goldene Bildnisse ragen aus den Umhüllungen hervor, Säulen undVasen aus Gold und Silber, besetzt mit funkelnden Edelsteinen. Unser Herr hat eigens zwei Metallschmelzer aus Kuba mitgenommen, aber um die ungeheuren Gold- und Silbermengen vollständig zu Barren einzuschmelzen, hätten sie gewiss noch Wochen gebraucht.
    Hinter Cortés und Escobar marschieren sieben- oder sogar achthundert weitere Soldaten. Viele von ihnen habe ich nie zuvor gesehen – das müssen die Männer sein, die unser Herr mit List und Gold auf seine Seite gezogen hat. Auch sie sind vielfach bandagiert, humpeln oder tragen gebrochene Arme in der Schlinge. Aber in ihren Augen bemerke ich jenes ungut vertraute Glitzern – und nun erkenne ich auch, dass es aus den Taschen jedes einzelnen Soldaten golden hervorblitzt. Jeder von ihnen trägt offenbar ein paar goldene Platten oder Barren mit sich – und so glauben sie alle, dass doch nicht alles umsonst war und unser Spiel noch nicht verloren ist!
    Erst als das Hauptheer an mir vorübergezogen ist, löse ich mich aus dem Dunkel des Grabens und klettere auf den Damm hinauf. Von links kommt in einiger Entfernung unsere Nachhut herangetrabt. Sie besteht aus vielleicht fünf Dutzend Reitern und nochmals rund hundert Soldaten zu Fuß. Falls Alvarado und Portocarrero noch am Leben sind, werden sie wohl wie üblich unsere Reiterschar anführen. Oder vielmehr, berichtige ich mich – falls Cortés seinen engsten Vertrauten Alvarado nicht zur Strafe degradiert hat, weil der Durchtriebene in kürzester Zeit unsere Stellung zerstört hat.
    Aber trifft Alvarado überhaupt irgendwelche Schuld an dem, was während der Abwesenheit unseres Herrn in Tenochtitlan geschehen ist? Hat unser Absturz nicht schon viel früher begonnen? Ich komme nicht dazu, mir über diese Frage den Kopf zu zerbrechen: Von Westen her, bei der Spitze unseres Zugs, erschallen plötzlich schrille Schreie, die die nächtliche Stille förmlich in Fetzen reißen.
    »Azteken, eilt herbei!«, kreischt ein anscheinend altes Weib auf Nahuatl. »Unsere Feinde wollen sich davonstehlen!«, schreit sie mit überkippender Stimme. »Zu den Waffen, lasst nicht zu, dass sie …«
    Ihre Warnrufe ersticken in einem Gurgeln, aber zu spät, viel zu spät! Nur ein paar Atemzüge später beginnen im Innern der Stadt die Kriegstrommeln machtvoll zu dröhnen.
- 6 -
    Noch ist es tiefe Nacht, der Himmel so schwarz, wie ich ihn hier in der Neuen Welt noch nie gesehen habe. So schwarz wie ein Priestergewand, so
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher