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Göttin der Wüste

Göttin der Wüste

Titel: Göttin der Wüste
Autoren: Kai Meyer
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keine langen Straßenzüge. Sie mußte sich in Erinnerung rufen, daß nur wenige hundert Menschen in Swakopmund lebten, nach heimischen Maßstäben kaum mehr als ein Dorf. Allmählich entstand in ihrer Phantasie das Bild einer Geisterstadt aus leeren, verfallenen Bauten, zwischen denen die Gespenster der einstigen Bewohner umgingen.
    Irgendwo aus dem Nebel drang das Schlagen von Türen, ein schrilles Pfeifen und das dumpfe, langanhaltende Dröhnen einer Lokomotive. Sie mußte also in der Nähe des Bahnhofs sein, vermochte aber nicht auszumachen, in welcher Richtung er lag. War das ihr Zug, der dort abfahrbereit gemacht wurde? Sie besaß keine Uhr und fragte sich vergeblich, wie lange sie jetzt schon im Nebel umherirrte. Der dichte Dunst hatte nicht nur ihre Sicht, sondern auch ihr Zeitgefühl vernebelt.
    Sie hatte die Hoffnung, das Tier einzufangen, längst aufgegeben und lief nur weiter, um ihr Gewissen zu beruhigen, als sie das Kaninchen mit einemmal entdeckte.
    Wie ein Schneeball hatte es sich am Fuß einer Treppe zusammengekauert, die zu einem kleinen Gemischtwarenladen hinaufführte. Einen Augenblick lang zögerte sie noch, dachte an den Zug, den sie verpassen würde, erinnerte sich aber zugleich an Friederikes Weinen. Zur Not konnte sie mit dem Geld der Freifrau immer noch in einem Hotel übernachten und die Bahn am nächsten Morgen nehmen. Ihre neuen Arbeitgeber würden sie nach der dreiwöchigen Überfahrt sicher nicht nach Hause schicken, nur weil sie einen Tag zu spät kam.
    Mit ausgestreckten Händen wollte sie sich auf das Kaninchen stürzen, als es plötzlich mit seinen roten Albinoaugen zu ihr aufblickte, in Bewegung geriet und davonhoppelte. Cendrine verfluchte ihr Pech und nahm erneut die Verfolgung auf.
    Sie kam nur wenige Schritte weit. Plötzlich ertönte ein ohrenbetäubendes Krachen, und das Kaninchen verschwand von einem Herzschlag zum nächsten aus ihrem Blickfeld. Dort, wo es zuletzt gesessen hatte, war der Sand mit Blut und weißem Fell verklebt.
    Stocksteif blieb sie stehen und sah mit einem Ruck vom Boden auf. Einige Meter links von ihr, mitten auf der Straße und fast unsichtbar im Nebel, standen drei Gestalten, Männer in hellgrauer Uniform, mit Hüten, deren breite Krempen an der rechten Seite hochgeschlagen waren. Der in der Mitte war einen Schritt vorgetreten und schob gerade einen handtellergroßen Revolver unter seine Uniformjacke. An den Gürteln aller drei Männer baumelten Säbel in silbernen Scheiden.
    Cendrine achtete nicht weiter auf die Soldaten. Ihre Hände zitterten, und ihr war abwechselnd heiß und kalt, als sie neben dem Blutfleck in die Hocke ging und langsam einen Finger danach ausstreckte.
    »Sie sollten das nicht tun, Fräulein«, sagte eine Männerstimme, und als sie abermals aufschaute, war der Mann, der geschossen hatte, neben sie getreten. Er war jünger als sie, höchstens neunzehn oder zwanzig. Unter anderen Umständen hätte sein glattes Gesicht womöglich freundlich auf sie gewirkt. Aber, liebe Güte, er hatte Friederikes Kaninchen getötet!
    Sie sprang auf, und ehe er reagieren konnte, versetzte sie ihm auf offener Straße eine schallende Ohrfeige. Der junge Soldat blieb stocksteif stehen, aber seine Augenlider begannen nervös zu zucken. Die beiden anderen Uniformierten, beide in seinem Alter, blieben zurück und traten verlegen von einem Fuß auf den anderen.
    »Wie konnten Sie nur!« brüllte sie ihn an, und dann tat sie impulsiv etwas, für das sie die Kinder in ihrem Unterricht drakonisch bestraft hätte: Sie spuckte ihm mitten ins Gesicht.
    Seine Lider zuckten noch stärker, und ihr fiel auf, wie hell das Blau seiner Augen war, fast weiß. Als er den Hut abnahm, war sein Haar darunter strohblond. Wortlos wischte er sich mit dem Handschuh ihre Spucke von der Wange, dann setzte er den Hut wieder auf, als hätte das eine etwas mit dem anderen zu tun gehabt.
    Er ist unsicher, dachte sie verbittert, unsicherer noch als ich.
    Und das mußte in der Tat etwas heißen, denn sie selbst bebte noch immer am ganzen Körper vor Aufregung und Abscheu. Allmählich dämmerte ihr die Einsicht, daß die drei sie wohl ins Gefängnis sperren konnten, wenn sie wollten.
    Herrgott, er hatte das verfluchte Kaninchen erschossen! Einfach so, aus Spaß!
    Sie wunderte sich, wie beherrscht er war, als er sie abermals ansprach. Einen Moment lang zweifelte sie an sich selbst – eine ihrer schlechten Angewohnheiten. War sie diejenige, die etwas falsch gemacht hatte?
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