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Göttin der Wüste

Göttin der Wüste

Titel: Göttin der Wüste
Autoren: Kai Meyer
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hier?«
    Keine Antwort.
    »Sprich mit mir«, verlangte sie. »Wir haben dich gesucht, all die Monate lang. Du hast keine Spuren hinterlassen.«
    »Keine Spuren …«, wiederholte er matt. »Damit du mich nicht findest. Damit der Tod mich nicht findet.«
    Schuldgefühle überkamen sie. Ihretwegen hatte er sein Schweigen gebrochen, seine Meditation, sein Alleinsein. Was gab ihr das Recht, hier zu sein und ihn aus seiner Ruhe zu reißen?
    »Manchmal kann ich dich spüren«, preßte er zwischen verdorrten Lippen hervor. »Du bist in meinem Kopf.«
    »Dann hast du meine Rufe gehört?«
    »Nicht deine Stimme. Deine Anwesenheit. Du bist in mir. Ich bin … froh.«
    Verwundert beugte sie sich vor. Immer wieder hatte sie versucht, ihn mit Hilfe ihrer Kräfte ausfindig zu machen, aber ihr war nie klargeworden, daß sie ihn tatsächlich erreicht hatte.
    Sie erwog den Versuch, seinen Geist zu erforschen, ließ es dann aber bleiben. Schon ihr Besuch in seiner Höhle war unerwünscht; sie wollte nicht auch noch gegen seinen Willen in seine Gedanken eindringen. Außerdem hatte sie Angst vor dem, was sie finden mochte. Sie scheute sich davor zu erfahren, was das Bild der toten Herero ihm angetan hatte. Damals war er spurlos verschwunden. War in die Wüste gelaufen und nie mehr zurückgekehrt.
    »Adrian ist draußen«, sagte sie. »Er wollte nicht glauben, daß du gestorben bist. Immer wenn ich kurz davor war, aufzugeben, hat er darauf bestanden, daß wir weitersuchen.«
    »Willst du, daß ich ihm dafür dankbar bin? Das kann ich nicht.«
    »Wirst du mit ihm reden?«
    Er schwieg eine Weile, dann sagte er: »Nein. Sag ihm nicht, daß du mich gefunden hast.«
    »Ich soll lügen?«
    »Geh«, verlangte er statt einer Antwort. »Es ist besser so. Ich. werde bald sterben. Ich habe mein Schweigen gebrochen.«
    Sie zögerte noch einige Sekunden, dann erhob sie sich.
    Zum ersten Mal öffnete er die Augen. Trotzdem glaubte sie nicht, daß er sie sehen konnte – sein Blick wirkte leer, fast blind. Es war nur eine Geste, etwas, das er ihr mit auf den Weg geben wollte.
    »Respekt, Cendrine. Mehr verlange ich nicht.«
    Sie wandte sich zum Gehen. Auf halber Höhe der Rampe schaute sie noch einmal über ihre Schulter. »Deine Mutter und deine Schwestern sind nach Deutschland gegangen. Sie glauben, daß Afrika ihnen Titus und dich weggenommen hat.«
    Falls er sie überhaupt noch hörte, so zeigte er keine Reaktion. Er würde nicht mehr sprechen. Seine Lider waren wieder geschlossen.
    Cendrine verließ die Höhle. Sand biß in ihre Haut und in ihre Augen. Heute roch es nicht nach Ozean, wie so oft, wenn sich schlechtes Wetter über der Namib ankündigte; statt dessen kam der peitschende Wind aus dem Inland.
    Auf der letzten Düne, hundert Meter vor dem Lager, verharrte sie und wandte das Gesicht nach Osten. Ihr Blick tastete über das weite Dünenmeer, verharrte schließlich auf den Sandwolken, die über den Horizont heranrasten.
    Hinter ihrem Rücken rief ihr jemand etwas zu. Sie drehte sich um und sah, daß Adrian den Dünenhang zu ihr heraufstapfte. Sie schenkte ihm ein kurzes Lächeln, dann blickte sie wieder über die Wüste.
    Der Sturm wird kommen, dachte sie.
    Sie ließ sich mit untergeschlagenen Beinen im Sand nieder und wartete ab, wer sie zuerst erreichte.
     
    ENDE

NACHWORT DES AUTORS
    Die San – auch heute noch besser als Buschmänner bekannt – sind eines der ältesten Völker Afrikas. Lange Zeit hielten Forscher sie für die letzten Überlebenden der Urbevölkerung unseres Planeten. Heutzutage umfaßt das San-Volk noch etwa 37000 Frauen und Männer. Die meisten haben sich von ihrer Tradition als Nomaden abgewandt, sind seßhaft geworden und arbeiten auf Farmen, in Tierreservaten oder als Fährtenleser für Namibias Militär. Der Verlust ihrer althergebrachten Kultur zeichnet sich bereits seit Jahrzehnten ab, Alkoholismus und Depression sind weit verbreitet – Anzeichen einer tiefgehenden Krise.
    Das Massaker an den Herero in der Omaheke hat tatsächlich stattgefunden. Deutsche Truppen stellten die Aufständischen am Waterberg und machten den meisten von ihnen in einer zweitägigen Schlacht den Garaus. Zusammengedrängt, von mehreren Seiten eingekesselt, entschlossen sich die Überlebenden zur Flucht nach Osten. Tagelang zogen sie durch das Sandfeld der Omaheke, erbarmungslos gejagt von den deutschen Eroberern, bis sie schließlich an Durst und Hunger starben. Insgesamt kamen während des Aufstands drei Viertel der
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