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Göttin der Wüste

Göttin der Wüste

Titel: Göttin der Wüste
Autoren: Kai Meyer
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in der Geisterwelt.
    Mit verschwommenen Sinnen sandte sie einen Dank hinaus in die Ebene der Schamanen, ungewiß, ob er das Wesen erreichte, das ihr Leben und einen Teil ihrer Vergangenheit gerettet hatte. Sie erinnerte sich an die Kaskadens und an die Bedrohung durch die Große Schlange, erinnerte sich an ihre eigene Ankunft in Windhuk und, ja, ganz vage auch an eine Stadt an der Küste. Swakopmund. Jenseits davon war nichts mehr. Entrissene Gedanken, gestohlenes Leben.
    Gab es davor überhaupt etwas, an das es sich zu erinnern lohnte? Mit einemmal schien das sehr unwichtig.
    Aufgeregtes Flüstern lenkte sie ab. Die Männer und Frauen der ersten Rasse scheuten zurück, als sie bemerkten, daß Cendrine aus ihrer Trance erwacht war. Der Ring aus Menschen weitete sich, als die meisten einige Schritte zurückwichen. Cendrine stemmte sich auf die Ellbogen, erhob sich dann in die Hocke. Der Boden schien zu schwanken, ihr Gleichgewichtssinn kämpfte noch immer mit ihrem Sturz in den Abgrund. Nur ganz allmählich konnte sie sich auf etwas anderes als auf ihren Halt konzentrieren, konnte sich umschauen, die Umgebung wiedererkennen.
    Qabbo war fort.
    Das Naheliegende wäre gewesen, daß er einfach davongegangen war. Aber Cendrine kannte die Wahrheit. Qabbo war dort, wo auch Wilhelm Haupt war, ein Gefangener wie der Mann, den er einst zum ewigen Umherirren in einer Welt verdammt hatte, die nicht seine eigene war.
    Der Gedanke an die Weiße Göttin kam ihr schlagartig und mit lodernder Intensität. Cendrines Blick raste herum, was ihrem neugefundenen Gleichgewicht einen empfindlichen Schlag versetzte. Sie schwankte, hielt sich nur mit Mühe, erhob sich aber schließlich auf die Füße. Sie wollte der Ersten Frau nicht auf Knien gegenübertreten.
    Doch als ihr Blick sich klärte, zog sich der helle Schemen bereits wieder ins Gewirr der Baumwurzeln zurück, verschwand in einem Netzwerk aus versteinertem Holz, vielleicht glücklich über diesen Ausgang, vielleicht auch ein wenig enttäuscht. Vielleicht gänzlich ohne Empfindung, leer, ausgehöhlt vom Schmerz der vergangenen Zeitalter, gefangen im Sog der kommenden. Kein Wille mehr zur Konfrontation. Kein Wille mehr zu irgend etwas. Nur noch Demut und das Bewußtsein einer Schuld, die nach menschlichem Verständnis gar keine war.
    Gott hatte den Menschen nicht nach seinem Ebenbild geschaffen, denn Er hatte niemals Menschlichkeit bewiesen – das war es, was Cendrine jetzt begriff, als sie sah, wie sich die Schatten um dieses einsame Geschöpf am Fuß des Baumes schlossen, es zurücksaugten in das Vergessen.
    Sie bekämpfte den Drang, näher an das Wurzelgeflecht heranzutreten, machte dann aber einfach kehrt und wandte sich dem Ausgang zu. Leises Raunen begleitete ihren Weg aus der Halle, aber niemand machte den Versuch, sie aufzuhalten.
    Sie wußte nichts über das Volk, das in diesen Mauern lebte. Wie hatte es überleben können in den Äonen, die der Tempel im Sand begraben war? Warum hatte es sich nicht gewehrt, als Selkirk die ersten Steine aus den Tempelwänden brach? Warum sah es auch jetzt einfach nur zu, wie seine Hoffnung auf Rettung entschwand?
    War Gleichgültigkeit die Nahrung von allem Ewigen? War sie Voraussetzung, war sie Zwang oder Folge?
    Cendrine schritt allein durch den langen Tunnel, durchquerte den Säulenhof und erreichte schließlich die offene Wüste. Die drei Kamele standen am Hang vor dem Portal, ebenso ausdruckslos und ohne erkennbare Emotion wie die Menschen, die Cendrine im Tempel zurückließ.
    Sie band die Zügel der beiden überzähligen Tiere am Zaumzeug ihres Kamels fest, stieg dann in den Sattel und folgte dem Verlauf ihrer Spur nach Westen.
    In der Ferne hörte sie die Hyänen heulen.

EPILOG

Die Wüste Namib
Zweiundzwanzig Monate später –
Dezember 1906
    Das Orgelspiel des Windes in den Felsklüften nahm mit jeder Minute zu. Hier drinnen, in der Höhle des Toten, wurden die Laute vielfach verzerrt, brachen sich an den uralten Wandmalereien und säuselten in den verästelten Spalten des Bodens. Der Luftzug war angenehm, eine willkommene Abkühlung nach all den Wochen draußen in der Wüste.
    Cendrine fragte sich, ob der abgemagerte Mann, der ihr im Schneidersitz gegenübersaß, genauso empfand.
    »Du bist der Tod«, sagte er mit heiserer Stimme. »Ich habe immer gewußt, daß du kommen würdest.«
    »Erkennst du mich?«
    Er schwieg, bewegte sich nicht. Sie wertete das als ein Ja.
    »Seit wann … ich meine, wie lange bist du schon
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