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Göttin der Wüste

Göttin der Wüste

Titel: Göttin der Wüste
Autoren: Kai Meyer
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öffnete und schloß sich wie unter Schock; die Lippen formten keine erkennbaren Worte.
    Er zerrte den zuckenden Butler von ihr fort und beugte sich über sie. Halb rechnete er mit einem weiteren Angriff, doch im Augenblick schien der Schmerz zu stark zu sein. In ihren Augen aber war ein haßerfülltes Glimmen, ein Versprechen: Ich töte dich, sobald ich kann.
    Eilig sprang er auf und verriegelte von innen die Küchentür. Er zerrte die Livree vom Leichnam des Butlers und schnitt mit dem blutigen Messer die Ärmel ab. Mit ihnen verband er die Wunden seiner Mutter notdürftig. Dann hob er sie vom Boden auf und trug sie durch die Backstube und über den Gang, an dem die Hauptvorratskammern lagen. Er brachte Madeleine ins Milchlager, weil es dort keine scharfen Haken und Messer gab, legte sie auf einem der Tische ab und verließ mit einem letzten Blick auf die Verletzte den Raum. Er zog den Schlüssel ab und verschloß die Tür von außen.
    Als er zurück in die Küche kam – er mußte erst über die tote Köchin, dann über den Leichnam des Butlers steigen –, vibrierte der Eingang bereits unter den Schlägen der Zwillinge. Jäh überkam ihn die Erkenntnis. Sein Vater war tot. Ebenso Johannes und die Köchin. Seine Mutter und seine Schwestern versuchten ihn umzubringen. Und draußen im Tal schien die Welt unterzugehen.
    Mehrere Atemzüge lang vergrub er das Gesicht in den Händen und sank gegen die Anrichte. Er mußte einen klaren Kopf bewahren, mußte zu Sinnen kommen. Mußte einen vernünftigen Gedanken fassen …
    Im Geiste sah er wieder die weiße Gestalt vor sich, die er draußen im Sturm entdeckt hatte. Sie mußte das Anwesen jeden Augenblick erreichen. Adrian wußte nicht, um wen oder was es sich handelte, aber er hatte keinen Zweifel, daß sie der Auslöser der Katastrophe war.
    Danach fiel es ihm nicht schwer, die nötige Entscheidung zu treffen.
    Er löste sich von der Anrichte und ging durch das Backhaus zum Hinterausgang. Als er die Hand auf die Scheiben der Tür legte, zitterte das Glas, so als hämmere von außen jemand mit unsichtbaren Fäusten dagegen.
    Der Sturm schien ihn zu packen und durchzuschütteln, als er ins Freie trat. Er lief gebückt – vielleicht nur ein dummer Instinkt –, um den tobenden Luftmassen weniger Angriffsfläche zu bieten. Der Sand stach wie winzige Insektenstiche in seine Haut, und bald hatte er das Gefühl, als wäre sein ganzer Körper mit kleinen Wunden bedeckt. Sein Hemd und seine Hosenbeine schienen sich in Sekundenschnelle aufzulösen. Nähte sprangen auf, Stoff hing in Fetzen. Adrian preßte schützend den rechten Arm vor die Augen und taumelte blindlings weiter. Er hatte die Gestalt jenseits der Ställe gesehen, inmitten der Einöde der einstigen Weinberge. Sie würde den Hof wohl aus dieser Richtung betreten.
    Doch er mußte den Fremden gar nicht suchen, denn mit einemmal konnte er seine Anwesenheit ganz deutlich spüren. Es war anders als vorhin, als der andere seinen Geist durchforscht und dann in zorniger Enttäuschung von ihm abgelassen hatte. Jetzt war es ein bewußtes Tasten und Fühlen, und Adrian tat sein Bestes, die Geste zu erwidern.
    Für einen Sekundenbruchteil öffnete die Gestalt ihren Geist. Ließ ihn hineinschauen, ließ ihn die Wahrheit erkennen.
    Adrian nahm den Arm vom Gesicht und stellte sich dem Sturm.
    Etwas berührte sein Gesicht, sachte, keineswegs so schmerzhaft wie der schneidende Sand. Ein Stück Stoff.
    Der Brudermörder stand vor ihm, keine Armlänge entfernt, und seine Gewänder tanzten auf den Winden.
    ***
    »Du hast damals gewußt, daß der Junge aus dem Dorf sterben würde, nicht wahr?«
    Qabbo legte traurig den Kopf schräg. »Ich habe ihn nicht getötet.«
    »Du kannst keine Geheimnisse mehr vor mir haben«, entgegnete Cendrine schroff. »Jetzt nicht mehr.«
    »Der Junge war ein Hyänenkind«, verteidigte sich der San. »Die anderen haben seinen Tod gefordert.«
    Sie nickte. »Du hast zugelassen, daß sie ihn verbrannten.«
    »So wie es Sitte ist.«
    Cendrine starrte ihn an. »Du hattest unrecht, Qabbo. Ich werde niemals so sein wie ihr. Ich bin keine San.«
    »Dein Glauben fordert die gleichen Opfer wie der unsere. Auch ihr habt einmal Frauen und Männer als Hexen hingerichtet.«
    »Das ist lange her …«
    »Und deshalb ist es vergessen?«
    »Das habe ich nicht gesagt.«
    »Die meisten Götter sind grausam, Cendrine. Sie fordern Opfer, und sie verleiten zum Töten. Aber du kannst anders sein, wenn du nur willst. Das alles liegt
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