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Göttin der Wüste

Göttin der Wüste

Titel: Göttin der Wüste
Autoren: Kai Meyer
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daß Qabbo und die anderen sie retteten. Zugleich aber sahen sie in Cendrine die Verkörperung dieser Rettung, deshalb würden sie sich um keinen Preis gegen sie stellen.
    Die blasse Frauengestalt im Wurzelgeflecht hatte sich nicht bewegt. Sie schaute immer noch zu. Wartete. Cendrine erwog den Versuch, in ihre Gedanken einzudringen, aber das hätte sie zu sehr von Qabbo abgelenkt.
    Der San gestikulierte mit beiden Händen und gab sich Mühe, seinen Zorn zu überspielen. »Versteh doch, daß –«
    Aber Cendrine ließ sich auf kein weiteres Gespräch mit ihm ein. Sie wagte einen erneuten Vorstoß, diesmal mit keinem anderen Ziel, als Qabbos Macht zu zerschmettern. Er hatte sie angelogen, hatte sie betrogen und ihr Vertrauen mißbraucht. Sie hatte keine Skrupel mehr, ihm Schmerz zuzufügen. Sie war jetzt … ja, was? Eine Göttin?
    Du selbst machst dich zu Qabbos Werkzeug, schalt sie ihre innere Stimme. Und er weiß es. Er muß nur zusehen, und du wirst genau dort hingehen, wo er dich haben will! Akzeptiere dich selbst als Göttin, und du wirst eine sein. Dann gibt es kein Zurück mehr.
    Nein! So einfach würde sie es ihm nicht machen.
    Qabbo schrie auf, als sie daranging, seine Vergangenheit auszulöschen. Sie würde dafür sorgen, daß er sein eigenes Ich vergaß. Seine Herkunft, seine Bestimmung, seine Ziele – all das würde sie ausradieren und ihn damit seiner Macht berauben.
    Sie begann mit den San-Hütten, die sie gesehen hatte, mit den Hügeln und dem Rinderkral, der sich unweit des Lagers befand. Sie nahm diese Bilder in seinem Kopf auseinander wie Steine eines Mosaiks.
    Qabbo erkannte, was sie tat, und sie wußte, daß ihm jetzt keine andere Wahl blieb, als zurückzuschlagen.
    Daß er es auf die gleiche Weise versuchte wie sie, enttäuschte sie. Aber es erstaunte sie auch. Und gerade deshalb wurde sie von seiner Attacke überrumpelt.
    Sie sah Bremen vor sich, die Aussicht aus dem Dachfenster ihrer Mansarde. Das Panorama begann sich vor ihren Augen in Fragmente aufzulösen, gerann zu Kristallen, zersplitterte.
    Er raubt mir meine Herkunft, schrie es alarmiert in ihr auf. Er nimmt mir die Vergangenheit!
    Sie sammelte alle Kraft, die sie fand, und stieß, sie wie eine Klinge in Qabbos Geist. Bremens Bruchstücke blieben bestehen, zertrümmert, aber noch immer eine vage Erinnerung in ihrem Unterbewußtsein.
    Der San schrie auf, und sein Kreischen drang sogar durch die Mauern der Trance, in die Cendrine sich selbst versetzt hatte. Die Weisen hatten ihr gezeigt, wie sie die Macht in ihrem Inneren nutzen konnte, und diese Lehre wandte sie jetzt gegen Qabbo.
    Doch auch er gab sich nicht geschlagen, ganz gleich, was sie ihm antat, und allmählich wandelte sich sein Wille, sie zur Weißen Göttin zu machen, in unbändigen Zorn. Vielleicht erkannte er, daß es ein Fehler gewesen war, ihr eine Wahl zu lassen. Sie hoffte sehr, daß er einsah, wie falsch es gewesen war, sie überhaupt herzubringen.
    Qabbos Gegenangriff traf sie wie eine Sturmfront, unsichtbar und doch mit solcher Gewalt, daß er sie beinahe aus ihrer Trance gerissen hätte. Die Pein setzte jeden Nervenstrang in ihrem Körper in Flammen, nagte an ihren Fasern und Muskeln, an den Windungen ihres Hirns. Qabbo wußte, wie man Schmerzen erzeugte, er wußte es weit besser als sie selbst. Sie hatte ihn nur weit genug reizen müssen, um ihn derart in Rage zu bringen. Und während er all seine Macht darauf konzentrierte, sie leiden zu lassen, und sie selbst kaum noch denken, geschweige denn handeln konnte, warf sie mit letzter Kraft einen mentalen Fangarm nach jener Erinnerung in ihm aus, die er selbst halb vergessen hatte. Cendrine zerrte die Dunkelheit des eingestürzten Minenschachts aus seiner Vergangenheit, und sie sah zu, wie sie den San umhüllte.
    Der Schmerz in ihr brach abrupt ab. Qabbos Geistfinger schnellten zurück wie Schlangen, die sich zu nah an ein Feuer gewagt hatten. Einen Augenblick lang gab ihr sein Rückzug Zeit, um durchzuatmen, dann setzte sie nach und sah zu, was mit ihrem Gegner geschah.
    Qabbo kauerte am Boden und weinte wie ein kleines Kind.
    Und nichts anderes war er in diesem Moment – ein Kind, gefangen in der Finsternis einer Felsspalte. Damals hatte er seinen Geist in die andere Welt gesandt, fort aus dem Elend, in dem sich sein Körper befand. Jetzt aber gab es diese Möglichkeit nicht mehr, dafür hatte er zuviel Kraft auf seine Attacke gegen Cendrine verwandt. Er durchlebte das, wovor er damals geflohen war. Alle Gefühle, alle
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