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Göttin der Wüste

Göttin der Wüste

Titel: Göttin der Wüste
Autoren: Kai Meyer
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den Hügeln am Rande des Talkessels, wuchs eine Wand aus aufgewirbeltem Erdreich, Sand, sogar Felsbrocken empor. Das Treibgut wurde durch die Luft geschleudert, von links nach rechts, kam aus dem Nichts und verschwand wieder darin – der Fuß des Wirbelsturms, ein winziger Ausschnitt seines trichterförmigen Strudels. Adrian vermochte sich die Geräusche nicht vorzustellen, die von solchen Gewalten erzeugt wurden. Für ihn herrschte vollkommene Stille, was den Anblick, der sich ihm bot, nur noch unwirklicher machte.
    Das Wesen in den weißen Gewändern streckte einen Arm nach ihm aus und legte seine kühlen Fingerspitzen an Adrians Stirn. Er stand da wie versteinert, spürte, wie sich die Kräfte, die aus den Fingern der Gestalt schossen, in seinem Hirn verzweigten, jeden seiner Gedanken erforschten und nach Hinweisen auf Cendrine suchten.
    Dann, plötzlich, zog das Wesen seine Hand zurück.
    Adrian riß die Augen auf, als die Gestalt den Kopf in den Nacken warf. Unter den weißen Stoffbahnen, die das Gesicht verschleierten und nur die dunklen Augen freiließen, hob ein entsetzlicher Schrei an, ein Laut der Enttäuschung und Qual, geboren aus dem abrupten Begreifen, hintergangen worden zu sein.
    Adrian konnte den Aufschrei hören.
    Der Laut gellte durch diese Welt und durch die andere, und es war von dort, aus der Ebene der Schamanen, von wo der Schrei zu Adrian herüberdrang, eher spür- als hörbar, Ausdruck eines Zorns, der mit anderen Sinnen als den menschlichen wahrgenommen wurde.
    Der Brudermörder machte kehrt und ging davon. Schritt den gleichen Weg zurück, den er gekommen war, und der Wind verwischte seine Spuren.
    Das Toben des Tornados schien sich einige Augenblicke lang zu vervielfachen, aber der Sturm kam nicht näher, wartete hinter den Hügeln und verbarg sich schließlich hinter einer Wolke aus Staub und Erde.
    Die Gestalt trat durch eine Gasse zwischen den Stallungen und verschwand aus Adrians Blickfeld. Für einige Sekunden verspürte er den unbändigen Drang, ihr zu folgen, zu sehen, wohin sie ging.
    Doch der Brudermörder war ein einsamer Wanderer, und sein Fluch duldete keine Begleitung.
    Irgendwann sah Adrian einen kleinen weißen Umriß oben auf dem Hügelkamm, dann verschmolz auch der letzte Hinweis auf Kains Existenz mit den aufstiebenden Sandschwaden. Er war wieder auf dem Weg in die Wüste, unterwegs in die Leere und in die Ewigkeit.
    Adrian gab sich einen Ruck und lief zurück zum Haus. Die beiden Leichen aus der Küche zog er ins Freie; er würde sie später beerdigen.
    Die Zwillinge saßen im Korridor vor der Küchentür und klammerten sich weinend aneinander. Sie wußten nicht, was geschehen war, wunderten sich nur über die blutigen Kratzspuren auf ihren Gesichtern und Unterarmen. Lucrecia hatte Salome eine Bißwunde am Unterschenkel zugefügt, aber beiden fehlte die Erinnerung, wie es dazu gekommen war. Adrian erzählte ihnen, ein streunendes Tier habe sie angegriffen.
    Seine Mutter lag hinter der Tür der Milchkammer, zusammengerollt wie ein Neugeborenes. Er mußte sie sachte beiseite schieben, um den Raum betreten zu können. Sie war ohne Bewußtsein, atmete aber regelmäßig. Ihr Puls ging schnell, ohne zu stocken. Adrian schickte die Zwillinge los, die Arzneikiste zu holen. Salome humpelte leicht.
    Bald darauf reinigte er Madeleines Stichwunden, dann die offene Stelle an Salomes Bein. Er strich Salbe auf alle Verletzungen und bandagierte sie, so gut er konnte.
    Zwei Stunden später legte sich der Sturm allmählich. Die Ausläufer der Großen Schlange zogen zurück nach Osten.
    Adrian bettete seine Mutter mit Kissen und Decken auf die Ladefläche eines Pferdegespanns, setzte Salome und Lucrecia daneben, dann lenkte er den Wagen durch das verwüstete Land nach Windhuk.
    ***
    Cendrine schlug die Augen auf und blickte in Gesichter, die sich kaum von der Schwärze des Tempeldoms abhoben. Ein dichter Pulk aus Männern und Frauen umgab sie. Der weite Halbkreis hatte sich zu einem engen Zirkel geschlossen. Neugierige, aber auch ängstliche Blicke beobachteten jede ihrer Regungen.
    Sie lag mit angewinkelten Beinen auf der Seite, als habe sie beim Sturz in den Abgrund versucht, sich so klein wie möglich zu machen. Schmerzen spürte sie keine, nur einen starken Schwindel, der ihr jeden klaren Gedanken entriß.
    Nach einer Weile gelang es ihr endlich, sich der Umgebung bewußt zu werden. Sie konnte sich auch an das, was geschehen war, erinnern, anders als bei ihrem ersten bewußten Besuch
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