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Göttin der Wüste

Göttin der Wüste

Titel: Göttin der Wüste
Autoren: Kai Meyer
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bald in deiner Hand.«
    Der Schemen stand immer noch zwischen den Wurzeln, nur unerheblich heller als die Finsternis in seinem Rücken. Die Weiße Göttin wartete. Wartete, wie ihre Erbin sich entscheiden würde.
    Die Überlebenden der Ersten Rasse bildeten einen weiten Halbkreis um Cendrine und Qabbo. Die Männer und Frauen verstanden sicherlich kein Wort von dem, was geredet wurde. Cendrine fragte sich, was Qabbo ihnen versprochen hatte. Was erwarteten sie von ihr? Glaubten sie wirklich, sie könnte die Versteinerung des Lebensbaumes rückgängig machen?
    »Du hast meine Frage noch nicht beantwortet, Qabbo«, sagte sie scharf. »Denkst du, du hast noch die Kraft, dich mir entgegenzustellen?«
    »Laß es nicht darauf ankommen, Cendrine«, gab er müde zurück.
    »Du selbst hast es immer wieder gesagt – ich besitze das Tausendfache deiner Macht.«
    »Aber du weißt nicht, wie du sie einsetzen kannst.«
    Sie lächelte grimmig. »Nein?« Und dabei stieß sie einen Pfeil aus purer Geisteskraft in seine Richtung, drang in sein Denken, seinen Verstand, in seine Vergangenheit ein.
    Es war, als durchstieße ihr Körper die Oberfläche eines reißenden Stroms – in einem Augenblick war Ruhe und eine endlose Sekunde stillen Abwartens, dann brach das Chaos über sie herein. Um sie war ein Wirrwarr aus Farben und Klängen, die Palette eines Malers nach einer langen Sitzung, und dazu schrien Stimmen in ihre Ohren; etwas, das ein Sturm sein mochte, heulte und jaulte, und eine Vielzahl von Gerüchen – Gewürze und gebratenes Fleisch, gemahlenes Getreide und Heu, Tierdung und Menschenkot – vermischten sich, trennten sich, flossen wieder ineinander.
    Die Zeit … verschiebt sich.
    Vor ihren Augen entsteht das Bild einer Hügellandschaft. Eine San-Familie hat mehrere Hütten aus Zweigen und Reisig errichtet. Aus einer dringt qualvolles Stöhnen, dann der erste Schrei eines Neugeborenen. Qabbo kommt zur Welt.
    Das Bild wechselt. Jahre später schuftet der kleine San in einer Erzmine. Er ist noch ein Kind, doch als er die anderen Arbeiter warnt, daß der Stollen bald einstürzen wird, glaubt man ihm sofort. Die meisten schaffen es rechtzeitig ans Tageslicht, weil sie den Jungen einfach niedertrampeln. Qabbo wird verschüttet. Vier Tage liegt er im Dunkeln zwischen den Trümmern. Er kann sich nicht bewegen, Gestein drückt auf seine Brust. Zum erstenmal schickt er seinen Geist auf Reisen, erforscht die Welt der Schamanen. Er ist selbst überrascht, wie leicht es ihm fällt. Arbeiter entdecken ihn bei den Aufräumarbeiten. Niemand hat ernsthaft nach ihm gesucht, weil keiner geglaubt hat, daß es Überlebende gibt. Sein Geist kehrt im selben Moment in seinen Körper zurück, als das Licht der Lampen über seine Züge huscht. Er hat weder Hunger noch Durst, als man ihn an die Oberfläche bringt. Trotzdem hat das Erlebnis Spuren hinterlassen: Er kennt jetzt den Weg in die andere Welt – und er hat fortan eine panische Furcht vor engen Räumen aus Stein. Nie wieder steigt er in eine Erzgrube hinab, arbeitet nur noch oberirdisch in den Minen. So lange, bis die Weisen der San auf ihn aufmerksam werden, ihn in ihren Zirkel aufnehmen und bald seinen Weisungen gehorchen.
    Schon früh hat er die Geschichten über die Erste Rasse gehört, über den legendären Lebensbaum und die Weiße Göttin, irgendwo im Glutofen der Kalahari. Die Weisen führen ihn dorthin, und er erfährt vom Sterben des Baums und vom Siechtum seiner Wächter. Wenn der Baum vergeht, vergehen auch seine Hüter, und mit ihnen ihre Nachkommen, das Volk der San. So lautet die Legende, und jedes Wort davon ist wahr. Seine Aufgabe ist es, einen neuen Wächter zu finden und das Volk der San zu retten.
    Etwas packte Cendrine und schleuderte sie zurück in die Wirklichkeit.
    Schweiß perlte auf Qabbos Gesicht, als sein Blick den ihren kreuzte. »Versuch das nie wieder«, knurrte er. Kalte Wut sprach aus seiner Stimme.
    Cendrine brauchte nur Sekunden, um wieder klares Bewußtsein zu erlangen. Sie hatte sich nicht gut genug gegen Qabbo abgeschottet, hatte zuviel von sich selbst preisgegeben, während sie in seiner Vergangenheit stöberte. Ein Fehler, den sie nicht wiederholen würde.
    Die Männer und Frauen der Ersten Rasse waren einige Schritte näher gekommen, ungewiß, was zwischen Qabbo und ihr vorging. Cendrine erforschte ihre Aura, aber sie fand keine Böswilligkeit darin. Diese Menschen hatten sich den Weisen der San völlig ausgeliefert, sie vertrauten tatsächlich darauf,
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