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Göttin der Wüste

Göttin der Wüste

Titel: Göttin der Wüste
Autoren: Kai Meyer
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gehofft, daß sich ihr Optimismus wenigstens dieses eine Mal als berechtigt erweisen würde.
    Jetzt aber, nachdem der Anker des Schiffes gefallen war und die Passagiere ungeduldig darauf warteten, an Land gebracht zu werden, verstand Cendrine, was der Kapitän gemeint hatte. Es existierte nicht einmal eine Landungsbrücke, so daß das Schiff rund hundertfünfzig Meter vom Strand entfernt hatte ankern müssen. Das Wasser war nicht tief genug, um Ruderboote einzusetzen, deshalb schlängelte sich eine endlose Kolonne Eingeborener zu Fuß durch die Brandung dem Schiff entgegen. Je zwei von ihnen trugen einen Korbsessel; darin, so war den Passagieren erklärt worden, würde man sie trockenen Fußes aufs Festland transportieren.
    Die drei Dutzend Reisenden standen in einer langen Reihe an der Reling und blickten den Schwarzen mit ihren schwankenden Korbsesseln argwöhnisch entgegen. Niemandem schien die Vorstellung zu gefallen, darin an Land getragen zu werden – mit Ausnahme eines kleinen Mädchens, das mit seiner Großmutter neben Cendrine ganz hinten in der Passagierreihe stand.
    Cendrine hatte die Freifrau von Öblitz und ihre Enkelin Friederike während der wochenlangen Reise eingehend kennengelernt, zwangsläufig, denn auf dem Schiff war es unmöglich, den Einladungen der alten Dame zum Tee zu entgehen. Als die Freifrau erfahren hatte, daß Cendrine gerade erst ihre Ausbildung zur Gouvernante mit Auszeichnung abgeschlossen hatte – immerhin an der ehrwürdigen Wilhelmine-Fleischer-Schule zu Bremen –, hatte sie ihr ans Herz gelegt, sich während der Fahrt um ihre Enkelin zu kümmern.
    »Wissen Sie«, hatte die alte Adelige seufzend gestanden und dabei sogar ihre sonst so feine Betonung vernachlässigt, »ich bin zu alt für solche Reisen und ganz gewiß viel zu alt für die Erziehung kleiner Mädchen. Mein Schwiegersohn ist Offizier der Schutztruppe in Okombahe. Er soll bald zum Zahlmeister befördert werden und wird wohl noch einige Jahre länger in Südwest bleiben als eigentlich vorgesehen. Ach, diese Militärs, Sie wissen schon! Meine Tochter ist damals mit ihm gegangen und hat Friederike bei mir gelassen. Oh, verstehen Sie mich nicht falsch, die Kleine ist mein ein und alles! Aber es ist längst an der Zeit, daß sie ihre Mutter wiedersieht. Ein Kind in diesem Alter braucht doch seine Eltern, meinen Sie nicht auch?«
    Seit diesem ersten Gespräch hatte Cendrine jede Einzelheit über das Adelsgeschlecht derer von Öblitz erfahren, ob sie wollte oder nicht, und schließlich hatte sie das Angebot angenommen, sich um Friederike zu kümmern – hauptsächlich um eine Entschuldigung zu haben, wenn die Freifrau sie ein ums andere Mal mangels besserer Gesellschaft ans Deck oder in die Schiffsmesse bat.
    Friederike war ein liebenswürdiges kleines Ding, neun Jahre alt, ungemein aufgeweckt und ohne eine Spur von Angst vor ihrer Zukunft in der Fremde. Cendrine dagegen sah dem Abenteuer Afrika weniger euphorisch entgegen. Sie kannte ihre neuen Arbeitgeber nur aus zwei kurzen Briefen, die ganz offensichtlich auf die schnelle diktiert und von einer Sekretärin getippt worden waren. Cendrine selbst hatte mehrere Schreiben verfaßt, in ihrer feinen, schnörkellosen Handschrift, hatte sich vorgestellt, ihre Ansichten über Kindeserziehung dargelegt und sich bemüht, an keiner Stelle durchscheinen zu lassen, wie sehr sie auf diese Stelle angewiesen war.
    Gewiß, ihre Beurteilungen waren makellos, einige der besten des ganzen Jahrgangs. Allerdings gab es immer weniger reiche Familien, die sich Gouvernanten und Privatlehrerinnen leisten wollten. Cendrine war nicht sicher, ob sie wirklich die erste war, der man das schriftliche Gesuch der Familie Kaskaden an die Schulleitung vorgelegt hatte; zweifellos jedoch hatte sie als einzige ernsthaft in Erwägung gezogen, eine Stellung in den deutschen Kolonien anzunehmen. Sie war jung – zweiundzwanzig erst –, alleinstehend, und sie brauchte das Geld. Doch es gab noch einen anderen Grund, der ihr das Angebot schmackhaft gemacht hatte, und jener wog beinahe noch schwerer.
    »Fräulein Muck!«
    Friederikes Stimme riß sie aus ihren Gedanken.
    »Fräulein Muck, sehen Sie! Wir sind gleich dran!«
    »Gleich an der Reihe, heißt es«, verbesserte die Großmutter und warf Cendrine einen mahnenden Blick zu, der wohl andeuten sollte, daß sie diese Korrektur von ihr erwartet hatte.
    Cendrine tat, als hätte sie es nicht bemerkt, und blickte an der Außentreppe hinab, die von einer Lücke in der
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