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Göttin der Wüste

Göttin der Wüste

Titel: Göttin der Wüste
Autoren: Kai Meyer
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sie, nicht unbeholfen oder verlegen, sondern durchaus mit Bedacht. Sie war sicher, daß er ihre Stimme erkannte.
    Der Tote regte sich nicht. Seine Augen blieben geschlossen, die ausgedörrten Lippen fest aufeinandergepreßt. Kein Zittern verriet seine Überraschung, kein Beben, kein Zucken seiner Lider. Aber er atmete. Oder bildete sie sich das nur ein? Nein, gewiß nicht.
    Sie war versucht eine Hand auszustrecken und auf seine eingefallene Brust zu legen, doch die Furcht, seine Haut kalt und blutleer vorzufinden, hielt sie davon ab. Zudem empfand sie Respekt für seinen Entschluß, sich in diese Einsamkeit zurückzuziehen. Er wollte von niemandem berührt werden, nicht einmal von ihr. Er hatte seine Wahl getroffen, so wie sie die ihre.
    »Wirst du mit mir sprechen?« fragte sie leise, als gäbe es in den dunklen Winkeln der Höhle noch weitere Wesen, die sie nicht aufschrecken wollte.
    Andere waren im Laufe der Zeit hergekommen, Menschen, die nicht wußten, wer er war oder woher er kam, und auch sie hatten versucht, mit ihm zu reden. Manche hatten ihn verspottet, andere angefleht, doch er hatte keinem eine Antwort gegeben.
    »Ich habe Zeit«, sagte sie, setzte sich ihm gegenüber auf den Boden und zog die Beine an, bis sie dasaß wie sein Spiegelbild. Sie hatte Zeit, gewiß, und mehr noch, wenn wirklich der Sandsturm über die Felsen und das umliegende Dünenmeer hereinbrach. Sie würde einige der verdorrten Früchte essen und das abgestandene Wasser aus den Tonschalen trinken, die man ihm gebracht hatte. Sie würde ausharren und warten, und sie würde erst wieder gehen, wenn er zu ihr gesprochen hatte. Mit ihr gesprochen hatte.
    Das Pfeifen des Windes in den Felsen wurde lauter, und sie begann, eine gewisse Schönheit darin zu erkennen, eine Reinheit der Klänge, die selbst dem Oboenspiel fehlte, dem sie so oft gelauscht hatte. Der Sturm kam, daran hatte sie bald keinen Zweifel mehr, und sie dachte an ihre Gefährten im Dünenlager, dachte sogar an die Kamele, die sich jetzt ängstlich aneinanderschmiegten wie verschreckte Katzenjunge.
    Die Zeit verging, mehrere Stunden, und immerzu redete sie auf ihn ein, mal sanft und einfühlsam, dann schärfer, sogar aggressiv. Doch erst, als sie sich vorbeugte und ihren Mund ganz nah an den seinen brachte, ohne ihn zu küssen, aber doch eng genug, um ihn ihre Nähe spüren zu lassen, ihre Wärme, ihre Weiblichkeit, schien sein Geist zum Leben zu erwachen. Ein hauchfeiner Spalt entstand zwischen seinen Lippen, und fast glaubte sie ein leises Reißen zu hören, als sich die ausgetrockneten Häute voneinander lösten.
    »Alles umsonst«, flüsterte er mit brüchiger Stimme. Seine Augen blieben geschlossen. »Keine Bewegung, keine Nahrung, kein Wasser. Alles, um bereit zu sein für diesen einen Augenblick. Und trotzdem hast du mich überlistet.«
    Sie wollte etwas entgegnen, doch er kam ihr zuvor.
    »Du bist der Tod«, sagte er tonlos. »Ich habe immer gewußt, daß du kommen würdest.«

ERSTER TEIL
KASKADEN

KAPITEL 1
Drei Jahre zuvor-Juni 1903
    Im Frühnebel, der von der See her landeinwärts zog, hatte die Hafenstadt Swakopmund mehr Ähnlichkeit mit einem Beduinenlager als mit einem der größten deutschen Stützpunkte Afrikas. Hafenstadt hatte der Kapitän des Überseedampfers den Ort genannt, aber er hatte auch gleich hinzugefügt, daß es in Swakopmund eigentlich nichts gebe, das die Bezeichnung Hafen verdiene.
    Cendrine blinzelte verunsichert, als sie über die rostige Reling hinweg zum Festland blickte. Die vereinzelten Häuser mit ihren spitzen, vielgiebeligen Dächern wirkten im Nebeldunst wie Nomadenzelte in den Illustrationen der Abenteuerbücher, die sie als Kind so gerne gelesen hatte. Swakopmund war nach drei Seiten hin vom Sandmeer der Großen Namib umgeben. Was auf den ersten Blick wie der Strand eines feinen Seebades wirkte, waren in Wirklichkeit die Dünen der Wüste, die entlang der gesamten Küste Deutsch-Südwestafrikas in den Ozean abfielen.
    Man hatte Cendrine vor Swakopmund gewarnt. Um einen ersten Eindruck von ihrer neuen Heimat zu gewinnen, sei die Stadt denkbar ungeeignet, hatte ihr der Kapitän während des letzten Abendessens in der Offiziersmesse erklärt und dabei eine gönnerhafte Beileidsmiene aufgesetzt. Cendrine hatte entgegnet, daß sie dort nur an Land gehen und gleich weiter ins Inland reisen werde, nach Windhuk, zweihundertsechzig Kilometer weiter östlich; der Anblick Swakopmunds werde sie schon nicht abschrecken. Dabei hatte sie insgeheim
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