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Göttin der Wüste

Göttin der Wüste

Titel: Göttin der Wüste
Autoren: Kai Meyer
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Reling zur Wasser-Oberfläche führte. Tatsächlich saß ein Großteil der Passagiere bereits in den Korbsesseln und war unterwegs zum Strand.
    Cendrine bückte sich, um das Mädchen auf den Arm zu nehmen, als sie plötzlich etwas bemerkte. »Friederike!« entfuhr es ihr erstaunt, als der Kopf eines weißen Kaninchens zwischen den Mantelaufschlägen der Kleinen hervorlugte. »Warum ist Caligula nicht in seinem Käfig?« Sie fragte sich immer noch, wer Friederike wohl auf die Idee gebracht hatte, dem Tier ausgerechnet diesen Namen zu geben.
    »Aber er hat doch Angst so allein«, jammerte die Kleine. »Außerdem – was ist, wenn der Käfig ins Wasser fällt?«
    »Und was ist, wenn du ins Wasser fällst?«
    »Dann kann ich Caligula immer noch so hoch halten, daß ihm nichts passiert.«
    Cendrine sah ein, daß jede Diskussion sinnlos war, und da auch die Freifrau nicht einschritt, beließ sie es bei einer letzten Ermahnung. »Halt ihn wenigstens gut fest. Es sieht aus, als wäre das Ganze eine recht wacklige Angelegenheit.«
    Das war es in der Tat, wie sich bald darauf herausstellte. Vor allem die Freifrau mit ihrem beträchtlichen Körperumfang machte den eingeborenen Trägern zu schaffen. Jene dagegen, die Friederike und die schlanke Cendrine trugen, grinsten, als sie die Sessel mit ihren leichten Insassen hochhoben und an Land trugen. Statt sich an den Seitenlehnen festzuhalten, hatte Friederike beide Arme um ihren Oberkörper geschlungen, damit das Kaninchen nicht versehentlich unter dem Mantel hervorpurzelte. Cendrine warf immer wieder sorgenvolle Blicke zu ihr hinüber, hatte aber selbst genug damit zu tun, sich bei all dem Gewackel und Geschwanke an den Armlehnen festzuklammern.
    Schließlich erreichten sie den Strand, ohne naß zu werden, und wurden dort, vorbei an einigen Wellblechhütten und Schuppen, zur Zollstation dirigiert. Der Nebel, der vom Atlantik aufstieg und sich über die Wüstenküste legte, war jetzt noch dichter geworden und nahm der Szenerie allmählich alle Exotik.
    Nachdem die Formalitäten erledigt waren und festgelegt worden war, welches Gepäck von den Trägern zum Bahnhof gebracht werden sollte, trat Cendrine an der Seite von Friederike und deren Großmutter ins Freie. Der Dunst schien sich rund um das kleine Zollgebäude zusammenzuballen, und die Sicht reichte jetzt kaum mehr sechs, sieben Schritte weit. Einige Schwarze, die offenbar keine Arbeit als Träger gefunden hatten, erboten sich in gebrochenem Deutsch, die Neuankömmlinge durch den Nebel zum Bahnhof zu führen, wobei sich herausstellte, daß Cendrine die einzige war, die heute noch weiterreisen würde.
    Beim Abschied steckte ihr die Freifrau ein ganzes Bündel Geldscheine in die Manteltasche. Cendrine bedankte sich erfreut, versicherte aber kokett, daß das nicht nötig gewesen wäre. Dann reichte sie Friederike die Hand. Das Mädchen war ihr während der vergangenen Wochen ans Herz gewachsen, und sie war ein wenig traurig, Lebewohl sagen zu müssen.
    Friederike streckte ihre kleine Hand aus und wollte artig ein Sprüchlein zum Abschied aufsagen, als plötzlich das Kaninchen unter ihrem Mantel hervorhuschte und blitzschnell im Nebel verschwand, eine weiße Wolke unter vielen.
    Cendrine fluchte leise, während die Kleine in Tränen ausbrach. Die Freifrau begann sogleich, beiden Vorhaltungen zu machen, und Cendrine sah nur eine Möglichkeit, der Tirade zu entgehen: Sie mußte dem Kaninchen folgen.
    »Wartet hier«, sagte sie zu Friederike, »ich fang ihn wieder ein.«
    Damit machte sie sich hastig auf den Weg und ließ die beiden zurück.
    Nebel und Wüste, das waren bisher für sie zwei Begriffe gewesen, die unter keinen Umständen zueinander gehörten. Nicht im Traum hätte sie sich vorstellen können, hier auf etwas Derartiges zu stoßen. Dürre und Trockenheit, natürlich, Sonnenbrand, vielleicht sogar Fieber – aber Nebel?
    Sie stolperte fast blind in die Richtung, in die das weiße Kaninchen davongehüpft war, rund um sie nichts als Dunstschwaden und unter ihren Füßen heller Wüstensand, der keinen Aufschluß darüber gab, ob sie gerade über eine Straße, einen Platz oder durch einen Vorgarten lief. Hin und wieder schälten sich Menschen aus dem Nebel, doch sie blieben grau und schemenhaft, ebenso wie die Häuser im wuchtigen Stil der Kolonialherren, von Türmen und hohen Giebeln überragt. Enge Gassen oder Höfe schien es hier nicht zu geben, nur weite Flächen, aus denen vereinzelt Gebäude emporwuchsen, keine Blocks,
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