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Goethesturm: Hendrik Wilmuts dritter Fall (German Edition)

Goethesturm: Hendrik Wilmuts dritter Fall (German Edition)

Titel: Goethesturm: Hendrik Wilmuts dritter Fall (German Edition)
Autoren: Bernd Köstering
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sehr
zurückhaltend, beinahe menschenscheu. Das war allerdings ein falscher erster
Eindruck. Er diskutierte lebhaft mit uns, ohne dabei seinen Kamillentee aus den
Augen zu lassen.
    Ich
sprach den Fall Jolanta Pajak absichtlich nicht aktiv an, um zu vermeiden, dass
ich irgendwie in die Ereignisse hineingezogen wurde. Aber natürlich gab es im
gesamten Theater kein anderes Thema. Feinert berichtete, dass er gestern Abend
mit einer Kollegin das komplette Theatergebäude nach der Schauspielerin
durchkämmt hatte, bis weit nach Mitternacht. Keine Spur. Weder in ihrer
Garderobe noch sonst irgendwo. Am Schluss hatten sie sogar den Bereich der
Außentreppe am Bühneneingang abgesucht und dort tatsächlich etwas gefunden:
Diese Nachricht, von der mir Benno bereits am Telefon erzählt hatte. Ein eilig
bekritzelter Zettel, der nicht irgendwo auf dem Pflaster gelegen hatte, auch
nicht in den Grünanlagen, sondern direkt vor dem steinernen Sockel des
Hummel-Denkmals, das unweit des Bühneneingangs stand. Martin Feinert war der
Ansicht, dass Frau Pajak ihn absichtlich dort fallen gelassen hatte, um auf
ihre Nachricht aufmerksam zu machen. ›Hilfe‹. Zu mehr hatte die Zeit wohl nicht
gereicht. Er war damit sofort zum Generalintendanten ins Theater-Café gegangen,
der nach wie vor dort saß, mit seinem ehemaligen Kollegen, diesem Liebrich.
    Meine
Frage, ob es tatsächlich Jolanta Pajaks Handschrift war, konnte Feinert nicht
beantworten. Dennoch wurde es immer wahrscheinlicher, dass Jolanta Pajak
entführt worden war. Aber warum und mit welcher Absicht? Weder Feinert noch
Heckel hatten eine Idee.
    Beide
waren überzeugt, dass die Premiere stattfand. Das sei alte Theatertradition.
Genauso wie das Verbot, auf der Bühne zu pfeifen. Notfalls könne eine andere
Kollegin aus dem Ensemble die Rolle der Marie übernehmen. Das sei zwar sehr
kurzfristig, aber zur Not ginge das, meinte Christoph Heckel, die Souffleuse
sei sehr gut. Eine andere Schauspielerin von außerhalb des Theaters komme nicht
infrage.
    Bevor
wir uns verabschiedeten, wollte ich noch gerne wissen, warum man auf der Bühne
nicht pfeifen durfte. Feinert erzählte mir, dass es früher Gaslaternen im
Theater gab, die ein lautes Pfeifen von sich gaben, wenn sie erloschen. Dann
musste die Gaszufuhr sofort gestoppt werden, um eine Explosion zu verhindern,
also durchaus eine gefährliche Situation. Und Theaterleute seien sehr
abergläubisch. Kein Pfeifen. Keinen Hut und kein Essen auf der Bühne – es sei
denn, das Theaterstück verlangt es. Ansonsten nur: Toi, toi, toi!

4. In einem Kopf
     
    Während seiner Kindheit hatte
Pierre gelernt, aufrecht zu gehen. Das Brustbein zu heben und dabei die
Schulterblätter zu senken. Den Kopf gerade zu halten wie eine afrikanische
Frau, die vom Brunnen kommt und ein mit Wasser gefülltes Tongefäß auf dem Kopf
balanciert. Heute war sein aufrechter Gang lange vergessen. Er selbst hatte ihn
vergessen. Und keiner seiner Mitmenschen konnte sich daran erinnern, ihn jemals
mit gehobenem Brustbein und gesenkten Schulterblättern gesehen zu haben, wie
ein respektierter Mann, der von seinem Kreativbrunnen kommt und ein mit Ideen
gefülltes Tongefäß auf dem Kopf balanciert.
    Es war
die Schuld, die auf seinen Schultern lastete, die ihn zu erdrücken drohte. Er
hatte eben nicht auf seinen Vater hören wollen.
    Sie
erfüllen mich, mein Herr, mit der größesten Hochachtung für Sie; und indem Sie
mir auf diese Weise mein Unrecht lebhaft empfinden machen, flößen Sie mir eine
Begierde ein, eine Kraft, alles wiedergutzumachen. Ich werfe mich zu Ihren
Füßen!
    So
hatte Goethe es Clavigo in den Mund gelegt. Und genau das war es, was Pierre
wollte: sich seinem Vater zu Füßen werfen, um die Schuld zu sühnen. Doch wie
lange konnte er das durchhalten? Wie lange hatte er die Kraft dazu? Andere
bestimmten, was er zu tun hatte, was er nach dem Frühstück und vor dem
Abendessen erledigen musste, was er anzuziehen und zu sagen hatte. War das
überhaupt ein Leben? Oder war es nur eine Rolle, die er spielte? Selbst wenn,
dann war es nicht mehr als eine schäbige Statistenrolle ohne Text, mit
Markierungen auf dem Bühnenboden, die anzeigten, wo er zu stehen hatte. Mehr
nicht. Doch er musste Buße tun.

5. Weimar, Humboldtstraße
     
    Als ich abends nach Hause kam,
hörte ich bereits im Flur, dass Hanna in der Küche mit Geschirr hantierte.
    »Du
bist ja schon da«, rief ich.
    »Stimmt!«,
erklang es aus der Küche.
    Typisch
Hanna. Kurz und klar. Ohne sie zu
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