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Gößling, Andreas

Gößling, Andreas

Titel: Gößling, Andreas
Autoren: Tzapalil - Im Bann des Jaguars
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jetzt vor der maisgelben Pyramide in die Höhe. Pedro war schon ein ganzes Stück weiter. Nur wenn sie den Kopf so weit wie möglich zurückdrehte, konnte sie ihn da oben noch sehen. Wie eine kakaobraune Puppe, in diesem hölzernen Greifer hängend. Eigentlich war es einfach eine Riesenschleuder mit zwei langen Stangen, die vorne durch ein dickes Seil verbunden waren.
    Das Seil lief über Pedros Brust und unter seinen Armen hindurch.
    Immer zwei Priester in maisgelben Gewändern zogen und hoben ihre Beute mitsamt den Stangen so hoch, wie sie nur konnten. Jetzt war natürlich auch klar, wofür sie dieses seltsame Gerüst aufgebaut hatten, das vom Gatter da unten bis zur Spitze der Pyramide reichte.
    Auf jeder Holzstufe standen zwei Maisgottpriester, und wenn die Reihe an sie kam, beugten sie sich vor, nahmen den Riesengreifer entgegen und reichten das Ganze zur nächsthöheren Stufe rauf.
    Carmen traute sich kaum mehr sich zu rühren. Das Seil schnürte ihr die Luft ab und schnitt unter den Armen ekelhaft ein, aber sie machte keinen Versuch, ihre Lage irgendwie zu verbessern. Das Trommeln und Flöten hatte ganz aufgehört, eine feierliche Stille lag über Tzapalil. In den Gesichtern der maisgelben Priester, die sie von Stufe zu Stufe entgegennahmen und weiterreichten, las Carmen eine ängstliche Anspannung, so als ob sie fürchteten, von ihrem Gott bei einem Fehler erwischt zu werden. Ohne ein Wort gingen sie in die Knie und beugten sich vor, um die Schleuder mit dem ausersehenen Opfer entgegenzunehmen. Genau gleichzeitig richteten beide sich wieder auf, stemmten die Stangen empor und reichten sie an das Priesterpaar über ihnen weiter, das genau die gleichen, offenbar bestens eingeübten Bewegungen machte. Es war wie eine riesige Maschine, perfekt und eindrucksvoll und vollkommen sinnlos.
    Die Tränen liefen ihr wieder die Wangen runter, dabei hatte sie eigentlich gar keine Angst davor, jetzt zu sterben. Oder spürte jedenfalls nichts in dieser Art. Ekelhaft wäre es nur, wenn die Priester sie jetzt fallen lassen würden. Sodass sie in die Tiefe stürzen und auf diese Stufen knallen und sich alle Knochen brechen würde. Aber wenn sie da oben gleich alle vier zusammen sein würden, das war doch etwas ganz anderes. Maria und Xavier, Pedro und ich, dachte Carmen. Immer noch spürte sie Pedros Lippen auf ihrem Mund und seine Hände, seinen Körper, wie er sich auf ihr ganz sanft bewegte.
    In Pedros Armen, dachte sie. Und bei Maria.
    Carmen blinzelte ein paar Tränen aus den Augen und sah noch einmal nach unten. Ein letztes Mal! Der Gedanke fühlte sich immer noch an wie gar nichts. Nichts ist jemals vorbei – und hey, mein Leben schon gar nicht! Aber wer waren denn diese drei dort unten?
    Sie machte die Augen ganz schmal, um das seltsame Grüppchen genauer zu sehen. Den uralten Mann im weißen Hemd, den riesigen schwarzen Hund mit dem bunten Sombrero und das winzig kleine Mädchen. Sie waren mitten im Gedränge der Gaffer, aber sie schauten überhaupt nicht zu ihnen herauf. Das Mädchen hockte auf dem Rücken des Hundes, vorgebeugt wie eine Reiterin, und umarmte den zottigen Hals des Tieres. Das sind doch der Großvater und Yeeb-ek!, dachte Carmen. Und das Mädchen da, das musste Ixpalim sein! Die beiden redeten und lachten miteinander, als ob sie sich seit Ewigkeiten kennen würden. Entgeistert sah Carmen zu ihnen hinunter. Wie konnte das denn überhaupt sein? Na ja, dachte sie dann, wenn Ixpalim wirklich die wiedergeborene Großmutter von Ixkulam war, dann konnte sie Pedros Großvater ja in ihrem früheren Leben schon begegnet sein. Aber wo denn bitte schön? Und glaubte sie selbst denn auf einmal auch, dass so etwas wirklich passieren konnte: dass man starb und in einem neuen Körper zurückkam? Nein, das glaub ich nicht!, dachte Carmen und suchte noch einmal das Durcheinander tief unter ihr nach dem Großvater, seinem Hundesohn und der kindlichen Großmutter ab. Aber sie war jetzt schon so hoch über dem Platz, dass die Leute dort unten nur noch wie bunte Tropfen waren.
    Da endlich hatte sie das Dach der Pyramide erreicht. Ein letztes Paar maisgelber Priester beugte sich zu ihr hinab, nahm die Stangen der Riesenschleuder entgegen und zog sie auf den First hinauf. Carmen sackte auf den Boden und sah sich sofort nach allen Seiten um.
    Wo war Pedro? Das Dach der Pyramide war so flach wie der Platz tief unter ihnen. Mindestens hundert Leute waren hier oben versammelt. Ein Steingeländer lief am Rand entlang, über und
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