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Gnadentod

Gnadentod

Titel: Gnadentod
Autoren: Jonathan Kellerman
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direkt hier, an der Abzweigung, im Freien.
    »Kein Versuch, ihn zu verbergen«, sagte ich.
    Er zuckte mit den Schultern und rammte seine Hände in die Hosentaschen. Er sah müde aus, erschöpft, ausgelaugt.
    Vielleicht lag es auch an der Jahreszeit. September kann ein scheußlicher Monat in L. A. sein, erstickend heiß oder klamm vor Kälte, überschattet von schmieriger Meeresluft, die die Stadt in einen Haufen schmutziger Wäsche verwandelt. Wenn ein Septembermorgen trübe beginnt, geht er in einen rußigen Nachmittag und schließlich in eine ekelhafte Nacht über. Manchmal blitzt ein bisschen Blau eine Nanosekunde lang durch die Wolken, manchmal scheint der Himmel regelrecht zu schwitzen, sodass kleine Tröpfchen die Windschutzscheiben überziehen. In den vergangenen Jahren haben hiesige Experten El Nino die Schuld daran gegeben, aber ich kann mich nicht erinnern, dass es je anders war.
    Septemberlicht ist schlecht für den Teint. Der von Milo konnte auf weitere Verwitterung verzichten. Der graue Morgen unterstrich seine Blässe noch und ließ die Aknenarben, mit denen seine Wangen übersät waren, noch tiefer aussehen. Durch die weißen Koteletten unter seinem immer noch kräftigen schwarzen Haar wirkten seine Schläfen fast wie Zebrastreifen. Er hatte seinen Alkoholkonsum wieder reduziert, und sein Gewicht hatte sich auf schätzungsweise 110 Kilogramm eingependelt, von denen die Mehrzahl um seine Körpermitte lagen. Seine Beine waren nach wie vor dünn und machten einen guten Teil seiner 190 Zentimeter aus. Seine seit jeher vollen Wangen waren an den Rändern nach unten gesackt. Wir waren im gleichen Alter - er war neun Monate älter -, folglich nahm ich an, dass die Unterkante meines Gesichts ebenfalls ein bisschen nachgegeben hatte. Ich verbrachte nicht allzu viel Zeit vor dem Spiegel.
    Er ging zum Tatort, und ich folgte ihm. Kaum erkennbare Winkel von Reifenspuren warfen die gelbe Erde auf. In der Nähe lag ein Fetzen gelbes Absperrband, staubig und völlig unbewegt. Eine Woche ohne ein Lüftchen - nichts hatte sich hier gerührt.
    »Wir haben Abgüsse der Reifenspuren gemacht«, sagte er mit einer flüchtigen Handbewegung. »Obwohl das wahrscheinlich kaum eine Rolle spielt. Wir wissen, woher der Lieferwagen stammte. Mietwagenaufkleber. Von der Avis-Filiale in Tarzana. Ein brauner Ford Econoline mit einem schönen großen Laderaum. Mate hat ihn letzten Freitag gemietet, mit dem Wochenendrabatt.«
    »Um einen weiteren Einsatz im Dienst der Barmherzigkeit vorzubereiten?«, sagte ich.
    »Dafür braucht er normalerweise die Lieferwagen. Aber bis jetzt hat sich kein Nutznießer seiner Wohltaten gemeldet und behauptet, Mate habe ihn versetzt.«
    »Ich bin überrascht, dass die Mietwagenfirmen ihn noch als Kunden akzeptieren.«
    »Tun sie wahrscheinlich nicht. Der Vertrag ist auf jemand anderes ausgestellt worden, auf eine Frau namens Alice Zoghbie, Präsidentin des Sokrates-Clubs - ein Sterbehilfe-Verein mit Sitz in Glendale. Sie ist außer Landes, nimmt an einer Art Humanisten-Kongress in Amsterdam teil - ist am Samstag abgeflogen.«
    »Sie hat den Lieferwagen gemietet und ist am nächsten Tag verschwunden?«, fragte ich.
    »Offensichtlich. Ich hab bei ihr zu Hause angerufen, wo auch der Sokrates-Club ansässig ist, und ihre Voice-Mail abgehört. Hab die Kollegen aus Glendale vorbeigeschickt. Niemand zu Hause. Zoghbies Nachricht lautet, sie sei in einer Woche zurück. Sie steht auf meiner Liste.« Er klopfte auf die Tasche, in der sein Notizblock steckte.
    »Ich frage mich, warum Mate nie einen Lieferwagen gekauft hat«, sagte ich.
    »Soweit ich das beurteilen kann, war er ein Geizhals. Ich hab mir seine Wohnung am Tag nach dem Mord vorgenommen und nicht viel gefunden, was man als Luxus bezeichnen könnte. Privat fährt er einen alten Chevy, der auch schon bessere Tage gesehen hat. Bevor er auf mobile Einsätze umgestellt hat, ist er immer in billigen Motels abgestiegen.«
    Ich nickte. »Leichen auf dem Bett, die am nächsten Morgen von der Putzkolonne entdeckt werden. Zu viele traumatisierte Zimmermädchen sorgen für eine schlechte Presse. Ich hab ihn mal im Fernsehen gesehen, wie er versucht hat, Boden gutzumachen. Er hat gesagt, Christus wäre in einer Scheune voller Ziegenmist geboren worden, deshalb spiele die Umgebung keine Rolle. Aber das tut sie, oder nicht?«
    Er sah mich an. »Du hast Mates Karriere verfolgt?«
    »Das war nicht nötig«, sagte ich mit gleichmütiger Stimme. »Er war nicht gerade
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