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Gnadenfrist

Titel: Gnadenfrist
Autoren: Mary Higgins Clark
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sie ihn angesehen. Es schien, als wollte sie, daß er zu ihr käme. Vielleicht würde sie ihn lieben. Wenn nicht, wäre es ein leichtes, sie loszuwerden. Er würde sie einfach mit dem Kind bis zum Mittwoch in dem Raum im Grand Central lassen. Wenn dann um 11 .3o Uhr die Bombe losging, würde auch sie mit in die Luft fliegen.
2
    Gemeinsam, nah nebeneinander, verließen sie das Studio. Der Tweedumhang drückte wie eine Last auf Sharons Schultern. Ihre Hände und Füße waren eiskalt. Sie zog sich die Handschuhe über und bemerkte, daß ihr Finger unter dem schönen alten Ring mit dem Mondstein, den sie von Steve zu Weihnachten bekommen hatte, schon wieder schmutzig war.
    Manche Menschen hatten einen so hohen Säuregehalt, daß sie kein echtes Gold tragen konnten, ohne daß sich diese unangenehme Begleiterscheinung einstellte.
    Steve hielt ihr die Tür auf. Als sie in den kalten Wintermorgen hinaustraten, schlug ihnen der Wind entgegen. Es hatte eben zu schneien angefangen. Die dicken, klebrigen Schneeflocken tauten auf ihren Gesichtern.
    »Ach hol’ dir ein Taxi«, sagte er.
    »Nein, ich möchte lieber zu Fuß gehen.« »Das ist doch Unsinn. Du siehst todmüde aus.«
    »Es wird mir helfen, wieder einen klaren Kopf zu bekommen. O Steve, wie kannst du nur so überzeugt sein, so sicher… so unbarmherzig… ?« »Laß uns nicht wieder von vorn anfangen, Liebling.« »Wir müssen wieder von vorn anfangen!«
    »Aber nicht jetzt.« Steve blickte auf sie hinunter; in seine Ungeduld mischte sich Sorge, als er Sharons überanstrengte Augen sah, die von feinen roten Linien durchzogen waren. Nicht einmal das starke Fernsehmake-up hatte ihre Blässe verdecken können, die jetzt, als der Schnee auf ihren Wangen und ihrer Stirn schmolz, noch deutlicher zum Vorschein kam.
    »Kannst du nach Hause gehen und dich etwas hinlegen?« fragte er. »Du mußt dich unbedingt ausruhen.« »Ich muß meine Kolumne in die Redaktion bringen.« »Trotzdem versuch ein paar Stunden zu schlafen. Gegen Viertel vor sechs bist du dann bei mir draußen, ja?« »Steve, ich weiß nicht recht…«
    »Aber ich weiß. Wir haben uns drei Wochen lang nicht gesehen. Und die Lufts rechnen mit dir, weil sie ausgehen wollen, um ihren Hochzeitstag zu feiern, und ich möchte heute abend zu Hause sein, mit dir und Neil.«
    Ohne auf die Leute zu achten, die in die Gebäude des Rockefeller Centers hasteten, legte er seine Hände um Sharons Gesicht und hob es zu sich empor. Als er den besorgten und traurigen Ausdruck darin sah, sagte er ernst: »Ich liebe dich, Sharon. Das weißt du. Ich habe dich schrecklich vermißt in diesen letzten Wochen. Wir müssen über uns sprechen.« »Steve, wir denken nicht gleich. Wir…«
    Er beugte sich zu ihr herunter und küßte sie, aber ihre Lippen gaben nicht nach, und er spürte, wie verkrampft ihr Körper war. Er trat zurück und hob die Hand, um ein vorbeifahrendes Taxi heranzuwinken. Als es auf dem Parkstreifen hielt, öffnete er Sharon die Wagentür und gab dem Fahrer die Adresse des News Dispatch-Hauses. »Kann ich heute abend mit dir rechnen?« fragte er, bevor er die Tür zuschlug.
    Sie nickte stumm. Steve sah dem Taxi nach, wie es in die Fifth Avenue einbog, dann ging er rasch in die andere Richtung davon. Er hatte im Gotham Hotel übernachtet, weil er um halb sieben Uhr morgens im Studio sein mußte, und nun wollte er Neil anrufen, um ihn auf alle Fälle noch vor der Schule zu erreichen. Er machte sich jedesmal Sorgen, wenn er die Nacht außer Haus verbringen mußte. Neil litt noch immer unter Alpträumen und an nächtlichen Asthmaanfällen. Mrs. Luft rief zwar immer sofort den Arzt, aber trotzdem…
    Der Winter war so feucht und kalt gewesen. Vielleicht würde sich Neil im Frühling, wenn er mehr an die frische Luft kam, ein wenig erholen. Er sah so blaß aus in der letzten Zeit.
    Frühling! Du lieber Gott, es war ja bereits Frühling. Irgendwann letzte Nacht war Tagundnachtgleiche gewesen, und der Winter war offiziell zu Ende. Der Wettervorhersage zufolge wäre man nie darauf gekommen.
    Als Steve an der nächsten Ecke abbog, fiel ihm ein, daß er Sharon jetzt genau sechs Monate kannte. An ihrem ersten Abend, als er sie von ihrer Wohnung abholte, schlug sie einen Spaziergang durch den Central Park zu der Taverne an der großen Wiese vor. Er hatte sie darauf aufmerksam gemacht, daß es sich in den letzten Stunden merklich abgekühlt hatte und daß es der erste Herbsttag war.
    »Wundervoll«, sagte sie. »Ich bin den Sommer
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