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Gnadenfrist

Titel: Gnadenfrist
Autoren: Mary Higgins Clark
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an die Worte der alten Frau. Sie hatte gesagt, sie wollte hier sterben. Sharon beugte sich zu ihr nieder und strich ihr über das verfilzte Haar. Mit den Fingerspitzen glättete sie die zerfurchte Stirn. Die Haut fühlte sich feucht an und kalt. Lally erschauerte heftig. Das Stöhnen verstummte.
    Sharon wußte, daß die Frau tot war. Und jetzt würde sie selbst sterben. »Ich liebe dich, Steve«, sagte sie laut. »Ich liebe dich, Steve.« Sie sah in Gedanken sein Gesicht. Ihre Sehnsucht nach ihm war wie ein körperlicher Schmerz, viel schärfer und ursprünglicher als das qualvolle Pochen in ihrem Fuß. Sie schloß die Augen. »Vergib uns unsere Schuld, wie auch wir vergeben unseren Schuldigern… Vater, in Deine Hände empfehle ich meinen Geist…«
    Ein Geräusch.
    Erschrocken öffnete sie die Augen. Foxy stand in der Tür. Ein häßliches Grinsen verunstaltete sein Gesicht. Mit gekrümmten Fingern und abgespreizten Daumen kam er auf sie zu.
52
    Hugh lief voraus. Er rannte zum Mount-Vernon-Bahnsteig, um die Gleise herum, die Rampe hinab in die tiefsten Tiefen des Bahnhofs. Steve lief neben ihm; die Männer mit dem Bombenschild bemühten sich, mit ihnen Schritt zu halten.
    Sie befanden sich auf der Rampe, als sie die Schreie hörten.
    »Nein… nein… nein… Steve… hilf mir… Steve…« Steves Zeit als aktiver Sportler lag zwanzig Jahre zurück. Doch jetzt spürte er noch einmal jene gewaltige Woge der Kraft, diesen außerordentlichen Energieausbruch, der sich stets bei einem Rennen eingestellt hatte.
    Er schoß an den anderen vorbei. Er mußte rechtzeitig bei Sharon sein.
    »Steeeeeevvvee…« Der Schrei wurde abgewürgt.
    Er war am Fuß der Treppe, jagte hinauf, stürmte durch eine offene Tür mitten hinein in einen Alptraum: Auf dem Boden eine Leiche; Sharon in halb liegender, halb sitzender Stellung, mit gefesselten Beinen und lose nach hinten herabhängendem Haar; Sharon, die versuchte, vor der Gestalt zurückzuweichen, die sich über sie beugte; eine Gestalt mit dicken Fingern, die ihr die Kehle zudrückten.
    Steve warf sich auf den Mann und rammte den Kopf in dessen gekrümmten Rücken. Foxy stürzte vornüber, so daß sie beide auf Sharon fielen. Unter ihrem Gewicht krachte das durchgelegene Feldbett ein, und sie rollten alle drei auf den Boden. Die Hände lagen noch um Sharons Hals, aber durch den heftigen Aufprall lockerte sich ihr Griff. Foxy kam wankend wieder auf die Beine und duckte sich. Steve wollte aufspringen, stolperte jedoch über Lallys Leiche. Sharon atmete gequält und keuchend. Hugh stürzte in den Raum.
    In die Enge getrieben, wich Foxy zurück. Seine Hand fand die Tür zu dem kleinen WC. Er sprang hinein, schlug die Tür zu und verriegelte sie von innen.
    »Kommen Sie heraus, Sie Narr«, schrie Hugh. Inzwischen waren die Polizisten mit dem Bombenschild hereingekommen. Mit äußerster Vorsicht überdeckten sie den schwarzen Koffer mit dem schweren Metallschild. Steve nahm Sharon in die Arme. Ihre Augen waren geschlossen. Ihr Kopf fiel nach hinten, als er sie aufhob. Die Druckstellen an ihrem Hals schwollen zu häßlichen Striemen an. Aber sie lebte, sie lebte. Er preßte sie an sich und wandte sich zur Tür. Seine Augen fielen auf die Fotos’ an der Wand, auf Ninas Bild, und er drückte Sharon noch fester an sich.

    Hugh beugte sich über Lally. »Sie ist tot.«
    Der große Zeiger der Uhr rückte auf die Sechs. »Raus jetzt«, brüllte Hugh.
    Sie rannten die Treppe hinab. »In den Tunnel! In den Tunnel!«
    Sie liefen am Generator und an den Entlüftungsschächten vorbei, erreichten die Schienen und liefen weiter in die Dunkelheit…
    Foxy hörte die sich entfernenden Schritte. Sie waren fort. Sie waren abgehauen. Er schob den Riegel zurück und öffnete die Tür. Als er den Metallschild über dem Koffer sah, begann er zu lachen - ein tiefes, polterndes, abgehacktes Lachen.
    Es war zu spät für ihn. Aber es war auch zu spät für sie. Am Ende gewann doch immer der Fuchs.
    Er griff nach dem Metallschild und wollte ihn von dem Koffer ziehen.
    Ein grellweißer Blitz, ein ohrenbetäubendes Krachen, und er wurde in die Ewigkeit geschleudert.
53
    Bob Kurner platzte in die St. Bernard-Kirche, rannte durch den Mittelgang und warf seine Arme um die kniende Gestalt.
    »Ist es vorbei?« Keine Träne benetzte ihre Augen.
    »Ist es vorbei? Mama, kommen Sie mit und nehmen Sie Ihren Jungen mit nach Hause. Sie haben den endgültigen Beweis, daß ein anderer den Mord begangen hat. Sie haben eine
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