Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

Gnadenfrist

Titel: Gnadenfrist
Autoren: Mary Higgins Clark
Vom Netzwerk:
sie wie wahnsinnig versuchte, mit der scharfen Kante des Türgriffs die Schnüre an ihren Handgelenken zu durchsägen. Es war schwer, den Griff in einer Hand zu halten und ihn gegen die Fessel an der anderen zu stoßen.
    Meistens verfehlte sie ihr Ziel und schnitt sich in die Hand. Sie fühlte das warme klebrige Blut über ihre Hände laufen und gerinnen. Daß es schmerzte, spürte sie nicht mehr. Aber was würde geschehen, wenn sie eine Schlagader traf und ohnmächtig wurde?
    Das Blut machte die Schnur weicher, nachgiebiger. Der Metallgriff stieß gegen die Schnur, aber er drang nicht hindurch. Seit über einer Stunde versuchte sie es nun… Es war fünfundzwanzig Minuten vor elf Uhr.
    Zwanzig vor elf.
    Zehn vor… fünf vor… fünf nach…
    Unempfindlich gegen jeden Schmerz arbeitete sie weiter. Ein feuchtkalter Schweißfilm lag auf ihrem Gesicht, ihre Hände waren blutverklebt. Sie merkte, daß Neil sie beobachtete. Bete, Neil.
    Um zehn nach elf spürte sie, wie die Schnüre morsch wurden und nachgaben. Noch einmal nahm sie ihre ganze Kraft zusammen und zog. Ihre Hände waren frei. Die Schnüre baumelten lose herab.
    Sie hob die Hände und schüttelte sie, um wieder Gefühl in sie zu bekommen. Noch fünfzehn Minuten.
    Sie stützte sich auf den linken Ellenbogen und richtete sich gerade soweit auf, daß sie sich, den Rücken gegen die Mauer gelehnt, in eine sitzende Stellung winden konnte. Ihre Beine fielen über den Rand des Betts. Rasender Schmerz schoß durch ihren Knöchel.
    Noch vierzehn Minuten.
    Ihre Finger zitterten vor Schwäche, als sie an dem Knebel zerrte. Der Knoten der Binde war so fest, daß sie ihn nicht aufbekam. Sie zerrte wie wahnsinnig an der Binde, und es gelang ihr, sie herunterzuziehen. Nach ein paar tiefen Atemzügen bekam sie wieder einen klaren Kopf.
    Noch dreizehn Minuten.

    Sie konnte nicht gehen. Aber sogar wenn sie zum Spülbecken kriechen und sich daran hochziehen würde, könnte sie die Bombe durch eine Erschütterung auslösen. Oder sie würde bei der Berührung hochgehen. Sharon erinnerte sich, wie unendlich vorsichtig Foxy mit den Drähten umgegangen war.
    Es gab keine Hoffnung mehr für sie. Sie mußte versuchen, Neil zu befreien. Wenn es ihr gelang, seine Fesseln zu lösen, konnte er hinauslaufen und die Leute warnen. Sie riß seinen Knebel herunter.
    »Sharon…«
    »Ich weiß. Ich versuche, deine Fesseln zu lösen. Ich kann es nicht ändern, wenn ich dir jetzt weh tue.« »Schon gut, Sharon.«
    Und dann hörte sie das Geräusch an der Tür. Kam er zurück? Hatte er es sich anders überlegt? Sie drückte Neil an sich und starrte auf die Tür. Sie öffnete sich. Das Licht ging an.
    In dem trüben Licht glaubte sie, eine Erscheinung zu haben. Eine alte Frau taumelte auf sie zu. Blut tropfte aus ihrem Mund, und ihre tief eingesunkenen Augen blickten verschwommen.
    Neil fuhr zurück, als die Frau auf sie zukam. Voll Entsetzen sah er, wie sie vornübersank und auf dem Boden zusammenbrach.
    Die Frau fiel auf die Seite. Sie versuchte zu sprechen. »… Messer… noch in meinem Rücken… helft… bitte… nehmt es heraus… es schmerzt… will hier sterben…«
    Der Kopf der Frau lag neben Sharons Fuß. Ihr Körper war seltsam verrenkt. Sharon sah den Messergriff zwischen den Schulterblättern hervorstehen.
    Sie könnte Neil mit dem Messer befreien… Schaudernd packte sie den Griff mit beiden Händen und zog. Das Messer saß fest. Dann kam es plötzlich frei. Sie hielt es in der Hand…
    die Schneide tückisch scharf und blutverschmiert.
    Die Frau wimmerte.
    Im Nu hatte Sharon Neil die Fesseln durchschnitten. »Neil, lauf zu… mach, daß du hier rauskommst… schrei ganz laut, daß eine Bombe explodieren wird… beeil dich… lauf die Treppe hinunter… dann kommt eine große Rampe… da rennst du hin… vom Bahnsteig aus gehst du über die Treppe nach oben… dort sind Menschen… dein Vater wird dich holen…
    beeil dich… du mußt aus dem Bahnhof… schicke alle Leute aus dem Bahnhof…«
    »Sharon«, flehte Neil. »Was passiert mit dir?« »Neil… geht jetzt. Geh!«
    Neil erhob sich. Er versuchte zu gehen, stolperte und fing sich wieder. »Meine Beine…«
    »Neil, schnell jetzt. Lauf endlich. Lauf zu!«
    Neil warf ihr noch einmal einen inständig bittenden Blick zu, dann gehorchte er. Er lief aus dem Raum auf den Treppenabsatz, dann die Treppe hinab. Sharon hatte gesagt, er solle die Treppe hinuntergehen. Es war unheimlich still hier unten. Er fürchtete sich. Dann fiel ihm
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher