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Gnadenfrist

Titel: Gnadenfrist
Autoren: Mary Higgins Clark
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unbeschwert, großartig und richtig in Stimmung. Die abblätternden Wände und die rissigen Bretter erregten ihn.
    Hier war er der Meister, der große Planer. Er würde sich sein Geld beschaffen. Er würde diese Augen zukriegen, und zwar für immer. Den Traum dieser Augen konnte er nicht länger ertragen. Er konnte das einfach nicht mehr. Und jetzt waren sie zu einer echten Gefahr geworden.
    Mittwoch. Bis Mittwoch vormittag elf Uhr dreißig waren es noch genau achtundvierzig Stunden. Dann würde er im Flugzeug nach Arizona sitzen, wo ihn kein Mensch kannte.
    Carley war ein zu unsicheres Pflaster für ihn geworden. Man würde zu viele Fragen stellen.
    Aber dort draußen, mit dem Geld… und ohne die Augen… Und wenn Sharon Martin lieb war, würde er sie mitnehmen. Er trug den Koffer zum Feldbett und legte ihn flach auf den Boden.
    Er öffnete ihn, nahm den winzigen Kassettenrecorder und die Kamera heraus und steckte sie in die linke Tasche seines formlosen braunen Überziehers. Das Jagdmesser und die Pistole kamen in die rechte Tasche. Die tiefen dicken Taschen ließen keine Ausbuchtungen erkennen.

    Er nahm die Einkaufstüte und breitete ihren Inhalt methodisch auf dem Feldbett aus.
    Mantel, Schal, Bindfaden, Pflaster und Binden stopfte er in den Segeltuchsack. Schließlich griff er nach der Rolle mit den Bildern. Er öffnete sie, glättete die Bogen und rollte sie einmal andersherum, damit sie nicht mehr so stark wellten. Seine Augen verweilten auf den Postern, und ein versonnenes Lächeln huschte über seine schmalen Lippen, als er sich erinnerte.
    Die ersten drei dieser plakatgroßen Bilder befestigte er mit Heftpflaster an der Wand über dem Bett. Das vierte sah er sich noch einmal genau an und rollte es wieder auf. Noch nicht.
    Nein, jetzt noch nicht.
    Die Zeit verging. Er machte das Licht aus, bevor er die Tür vorsichtig einen Spalt breit öffnete. Angestrengt horchte er hinaus, aber es waren keine Schritte in dem Bereich zu hören.
    Er schlüpfte hinaus, stieg geräuschlos die Eisenleiter hinab und eilte an dem stampfenden Generator, den surrenden Ventilatoren, dem gähnenden Tunnel vorbei, die Rampe hinauf, um die Mount-Vernon-Gleise herum und die Treppe hinauf zum Untergeschoß der Grand Central Station. Hier fügte er sich in den Menschenstrom ein, ein breitbrüstiger Mann Ende dreißig, muskulös, mit aufrechter, steifer Körperhaltung, einem rauhen, aufgedunsenen Gesicht mit hohen Backenknochen, schmalen, zusammengepreßten Lippen und schweren Lidern, unter denen sich die fahlen Augen, die von einer Seite zur anderen schossen, nur teilweise verbergen konnten.
    Mit einer Fahrkarte in der Hand eilte er zur Sperre im Obergeschoß, wo die Züge nach Carley in Connecticut abfuhren.
4
    Neil stand an der Ecke und wartete auf den Schulbus. Er wußte, daß ihn Mrs. Luft vom Fenster aus beobachtete. Er haßte das. Keiner seiner Freunde wurde von seiner Mutter so beobachtet wie er von Mrs. Luft.
    Schließlich ging er in die erste Klasse der Grundschule und nicht mehr in den Kindergarten.
    Wenn es regnete, mußte er immer im Haus warten, bis der Bus kam. Das haßte er auch. Das sah aus, als wäre er ein Weichling. Er hatte versucht, mit seinem Vater darüber zu reden, aber Dad hatte ihn nicht verstanden. Er hatte nur gesagt, Neil müsse besonders auf sich aufpassen wegen der Asthmaanfälle.
    Sandy Parker ging in die 4. Klasse. Er wohnte in der nächsten Straße, stieg aber an dieser Haltestelle ein. Immer wollte er neben Neil sitzen. Neil wünschte, er würde sich anderswo hinsetzen, denn Sandy redete immer über Dinge, über die Neil nicht reden wollte.
    Gerade als der Bus um die Ecke bog, kam Sandy mit seinen Büchern angekeucht, die ihm jeden Moment unter dem Arm wegzurutschen drohten. Neil versuchte, einen leeren Platz im hinteren Teil anzusteuern, aber schon sagte Sandy: »Hier, Neil, hier sind Plätze nebeneinander.« Im Bus ging es lebhaft zu. Alle Kinder redeten so laut sie konnten. Sandy sprach nicht besonders laut, aber man konnte kein einziges Wort von dem, was er sagte, überhören.
    Er platzte fast vor Aufregung. Kaum saßen sie, fing er an: »Wir haben deinen Vater in der Today Show gesehen, als wir gerade frühstückten.«
    »Meinen Vater?« Neil schüttelte den Kopf. »Du verkohlst mich nur.«
    »Nein, tu ich nicht. Die Frau, die ich neulich bei euch getroffen habe, Sharon Martin, war auch da. Sie haben sich gestritten.«
    »Warum?« Eigentlich hatte Neil nicht fragen wollen. Er wußte nie genau, ob
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