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Gnadenfrist

Titel: Gnadenfrist
Autoren: Mary Higgins Clark
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Mantelkragen und ganz in sich zusammengeschrumpft hasteten die Menschen durch das heftige Schneetreiben.
    Das Wetter war ideal für ihn, denn niemand machte sich bei solchem Wetter die Mühe, auf andere zu achten.
    Sein erstes Ziel war ein Trödlerladen in der Second Avenue unterhalb der 34. Straße. Trotz der Busse, die in Abständen von wenigen Minuten vorüberfuhren, ging er die Strecke zu Fuß.
    Vierzehn Blocks, immerhin, aber Gehen war gesund, und es war wichtig, in Form zu bleiben.
    Bis auf eine ältliche Verkäuferin, die teilnahmslos ihre Morgenzeitung las, war das Geschäft leer. »Suchen Sie was Bestimmtes?« fragte sie.
    »Nein. Ich will mich nur umsehen.« Er entdeckte den Ständer mit Damenmänteln und ging darauf zu. Er schob die schäbigen Dinger hin und her und wählte schließlich einen dunkelgrauen, weit geschnittenen Wollmantel, der lang genug war, um Sharon Martin zu passen. Von einem Tisch mit gefalteten Kopftüchern nahm er das größte, ein verblichenes blaues Vierecktuch.
    Die Frau packte seine Einkäufe in eine Einkaufstüte. Der Army-Navy-Store war gleich nebenan. Das war praktisch. In der Campingabteilung kaufte er einen großen Segeltuchbeutel.
    Er wählte sehr sorgfältig, denn der Sack mußte lang genug sein, daß der Junge hineinpaßte; er mußte dicht genug sein, damit man nicht erkennen konnte, was er darin trug; er mußte weit genug sein, damit genug Luft hineinkam, wenn das Zugband locker war.
    In einem Woolworthgeschäft in der First Avenue erstand er sechs breite elastische Binden und zwei große Rollen starken Bindfadens. Er brachte seine Einkäufe zurück ins Biltmore-Hotel. Sein Bett war gemacht, und im Bad hingen frische Handtücher.
    Er warf einen Blick in den Schrank, um zu sehen, ob das Zimmermädchen an seine Sachen gegangen war. Aber sein zweites Paar Schuhe stand noch genauso, wie er es hingestellt hatte -
    einer um Haaresbreite hinter dem anderen und fast an den alten schwarzen Koffer mit den zwei Schlössern anstoßend, der in der Ecke stand.

    Nachdem er die Zimmertür verriegelt hatte, legte er die Tüten mit seinen Einkäufen aufs Bett. Mit äußerster Sorgfalt hob er den Koffer aus dem Schrank und legte ihn ans Fußende des Bettes. Dann holte er aus einem Fach seiner Brieftasche einen Schlüssel und öffnete den Koffer.
    Systematisch prüfte er seinen Inhalt - die Bilder, das Pulver, die Uhr, die Drähte, die Zündschnüre, Jagdmesser und Pistole. Zufrieden schloß er den Koffer wieder ab.
    Mit Koffer und Einkaufstüte verließ er sein Zimmer. Diesmal fuhr er bis in die untere Eingangshalle des Biltmore, die auf eine unterirdische Passage hinausführte. Von hier aus konnte man direkt in die obere Etage der Grand Central Station gelangen. Die erste Hauptverkehrszeit, wenn die Pendler mit den Vorortszügen zur Arbeit in die Stadt kamen, war vorbei, aber der Bahnhof war noch immer voller Menschen, die zu den Zügen eilten oder von dorther kamen, von Leuten, die den Bahnhof als Abkürzung zwischen der 42. Straße und der Park Avenue benutzten, und von Leuten, die auf dem Weg zu den unterirdischen Einkaufspassagen waren, zum City-Wettbüro der Rennbahnen, zu den Imbißstuben und Zeitungskiosken.
    Mit raschen Schritten ging er die Treppe ins untere Bahnhofsgeschoß hinab und schlenderte in der Menge zum Bahnsteig 112, wo die Mount-Vernon-Züge ankamen und abfuhren. Für die nächsten achtzehn Minuten war hier kein Zug fällig, und der Bahnsteig lag verlassen da.
    Er blickte sich schnell um, ob ein Wachmann in seine Richtung sah, dann verschwand er über eine nach unten führende Bahnsteigtreppe.
    Der Bahnsteig erstreckte sich U-förmig um den Kopf der Gleise. Am anderen Ende führte eine Rampe in die Tiefen des Bahnhofs hinab. Eilig steuerte er um die Gleise herum auf diese Rampe zu. Er bewegte sich jetzt hastiger, fast wie ein Dieb. Die Geräusche änderten sich.
    Während oben ein ständiges geschäftiges Kommen und Gehen von Tausenden von Reisenden herrschte, schnaufte hier unten eine pneumatische Pumpe, dröhnten Ventilatoren, Wasser rann über den feuchten Boden. Lautlos huschten ausgemergelte streunende Katzen durch den nahegelegenen Tunnel unter der Park Avenue herein und hinaus. Ein anhaltendes dumpfes Dröhnen drang von der Schleife her, wo alle ausfahrenden Züge wendeten und, allmählich Fahrt gewinnend, den Bahnhof hinter sich ließen.
    Er drang immer tiefer in den Bauch des Bahnhofs ein, bis er sich am Fuße einer steilen Eisentreppe befand. Er eilte die
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