Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

Gnadenfrist

Titel: Gnadenfrist
Autoren: Mary Higgins Clark
Vom Netzwerk:
gerade leid geworden.« Die ersten Häuserblocks legten sie fast schweigend zurück. Er beobachtete, wie sie ging und spielend mit ihm Schritt hielt. Ein gegürteter goldbrauner Hosenanzug, der genau zur Farbe ihres Haars paßte, betonte ihre schlanke Figur. Er erinnerte sich, daß eine scharfe Brise die ersten welken Blätter von den Bäumen riß und wie tiefblau der Herbsthimmel im Licht der untergehenden Sonne leuchtete.
    »An einem solchen Abend denke ich immer an jenes Lied von Camelot«, erzählte sie ihm.
    »Sie kennen es sicher: Wenn ich dich je verlassen sollte…« Sie sang leise: »Wie sollte ich im Herbst je von dir scheiden, ich wüßt’ es nicht. Ich hab’ gesehn, wie du im ersten Frosthauch funkelst. Ich kenne dich im Herbst, und ich muß bleiben…« Sie hatte eine hübsche Altstimme.
    Wenn ich dich je verlassen sollte…
    Hatte er sich in diesem Augenblick in sie verliebt?
    Es war ein so schöner Abend gewesen. Sie hatten sich bei ihrem Dinner Zeit gelassen und geredet, während an den Nebentischen die Leute kamen und gingen.
    Worüber hatten sie sich unterhalten? Über alles mögliche. Ihr Vater war Ingenieur bei einer Ölgesellschaft. Sie und ihre beiden Schwestern wurden im Ausland geboren. Beide Schwestern waren inzwischen verheiratet.
    »Wie sind Sie dem bisher entkommen?« Es war eine Frage, die er einfach stellen mußte, und beide wußten, daß er eigentlich fragte: »Gibt es jemand, der in Ihrem Leben eine wichtige Rolle spielt?«
    Nein, es gab niemanden. Bevor sie als Kolumnistin zu schreiben begonnen hatte, war sie fast ständig für ihre frühere Zeitung auf Reisen gewesen. Es war interessant, sie hatte viel Spaß gehabt, und sie wußte nicht, wo die sieben Jahre seit ihrem Collegeabschluß geblieben waren.
    Zu Fuß gingen sie zu ihrer Wohnung zurück, und nach dem zweiten Block gingen sie Hand in Hand. Sie lud ihn noch zu einem Schlummertrunk ein, und sie sagte es ein ganz klein wenig förmlich. Während er die Drinks machte, hielt sie ein Streichholz an die Kienspäne im Kamin, und dann saßen sie Seite an Seite und schauten den Flammen zu.
    Steve konnte sich noch genau an das Gefühl an jenem Abend erinnern; wie das Feuer das Gold in ihrem Haar aufleuchten ließ, Schatten auf ihr klassisches Profil warf und ihr schönes Lächeln schlagartig hervorhob. Fast schmerzhaft hatte er sich danach gesehnt, seine Arme um sie zu legen, aber dann hatte er sie zum Abschied nur leicht geküßt. »Bis Samstag, wenn Sie nichts anderes vorhaben…« Er wartete. »Ich habe nichts vor.« »Ich ruf’ Sie am Vormittag an.«
    Und auf der Heimfahrt hatte er gewußt, daß das rastlose, unaufhörliche Hungern nach Liebe der letzten zwei Jahre ein Ende finden konnte. Wenn ich dich je verlassen sollte… Verlaß mich nicht, Sharon.

    Es war Viertel vor acht, als er das Gebäude 1347 in der Avenue of the Americas betrat. Die Events-Redakteure glänzten nicht gerade durch frühes Erscheinen. Die Gänge waren menschenleer. Steve nickte dem Wachmann am Aufzug zu, fuhr in sein Büro im 36. Stock und wählte seine Privatnummer. Mrs. Luft meldete sich.
    »Oh, Neil geht es gut. Er ißt gerade sein Frühstück, das heißt, er stochert darin herum. Neil, komm, dein Vater ist dran.« »Hallo, Dad, wann kommst du nach Hause?«
    »So gegen halb neun. Ich habe um fünf noch eine Besprechung. Die Lufts wollen noch immer ins Kino gehen, oder?« »Ich glaube schon.«
    »Sharon wird kurz vor sechs draußen sein, so daß sie rechtzeitig aufbrechen können.«
    »Ich weiß. Du hast es mir gesagt.« Neils Stimme klang völlig neutral.
    »Also dann, mach’s gut, Junge. Und zieh dich warm an. Es ist ziemlich kalt geworden.
    Schneit es bei euch auch schon?« »Nein, es ist nur irgendwie düster.« »Dann bis heute abend.« »Tschüs, Dad.«
    Etwas bedrückt legte Steve den Hörer auf. Es war kaum vorstellbar, daß Neil einst ein unbekümmertes, quicklebendiges Kind gewesen war. Ninas Tod hatte ihn so verändert.
    Er wünschte, Neil und Sharon würden sich näherkommen.
    Sharon bemühte sich wirklich, seine Zurückhaltung zu durchbrechen, aber er gab keinen Finger breit nach, zumindest bis jetzt nicht.
    Aber alles braucht seine Zeit. Seufzend drehte er sich um und nahm von dem Tisch hinter seinem Schreibtisch den Leitartikel, an dem er am Abend vorher gearbeitet hatte.
3
    Der Gast von 932 verließ das Biltmore um neun Uhr dreißig. Er nahm den Ausgang 44.
    Straße und ging nach Osten Richtung Second Avenue. Mit hochgestellten
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher