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Glückliche Ehe

Glückliche Ehe

Titel: Glückliche Ehe
Autoren: Klett-Cotta Verlag
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Richtung eines unsichtbaren Geschworenengerichts zu gestikulieren, machte damit aber ungewollt den Kellner auf sich aufmerksam. Der hob die buschigen griechischen Augenbrauen und fragte: »Zahlen?« Enrique schüttelte den Kopf und wandte sich wieder seinem unmöglichen Freund zu. »Du erzählst mir die ganze Zeit von dieser schönen –«
    »Dass sie schön ist, hab ich nicht gesagt«, fiel ihm Bernard ins Wort.
    »Dann ist sie also hässlich?«
    »Nein!«
    »Unscheinbar?«
    »Mit Klischees kann man sie nicht beschreiben.«
    »Bernard, ich denke nun mal in Klischees, also bitte. Ist sie groß? Was hat sie für Titten? Wenn es sie gibt, könntest du mir das sagen.«
    Bernard sah Enrique verächtlich an. »Das ist doch albern. Ich könnte diese Details doch leicht erfinden.«
    »Ach ja?«, schoss Enrique sarkastisch zurück. »Da habe ich meine Zweifel. Sich die Größe von Brüsten vorzustellen – ich glaube, dass das deine kreativen Fähigkeiten übersteigt.«
    »Arsch«, sagte Bernard und meinte es auch. In Bernards Augen waren seine Breitseiten gegen Enriques Talent nur freundschaftliche Frotzeleien, weil Enrique ja schon veröffentlicht hatte, während für ihn jede negative Bemerkung von Enrique gleich grausam und tödlich war.
    »Selber Arsch, weil du sagst, sie würde nie mit mir ausgehen«, gab Enrique zurück und meinte es ebenfalls, denn in seinem tiefsten Inneren fürchtete er, dass keine begehrenswerte Frau je mit ihm ausgehen würde. Verstärkt wurde diese Angst noch, weil er mit Frauen einerseits zwareinigermaßen erfahren war, andererseits auch wieder überhaupt nicht. Er hatte schon mal dreieinhalb Jahre mit einer Frau zusammengelebt, da er im zarten Alter von sechzehn Jahren neben einem ersten Verlagsvertrag auch eine feste Freundin hatte ergattern können. Vor dieser Beziehung mit Sylvie hatte er nur einmal Geschlechtsverkehr gehabt (ein Klassiker: so schnell wie möglich den Zustand der Jungfräulichkeit überwinden, kurz und ernst wie eine spätnächtliche Durchsage im Fernsehen). Seit ihrer Trennung vor achtzehn Monaten war Enrique nur mit einer einzigen Frau zusammen gewesen, und da hatte er nicht gekonnt. Er hatte also schon oft Sex gehabt, aber nur zwei Frauen – dieselbe Anzahl wie die der Bücher, die er veröffentlicht hatte.
    Der Grund seiner sexuellen Verunsicherung war, dass Sylvie sich einen anderen zugelegt hatte. Sie hatte ihm zunächst nur erklärt, sie werde für ein paar Wochen ausziehen, damit sie mal »Pause« machten. Enrique hatte sie daraufhin wüst beschimpft, sie »treibe es mit einem anderen«. Zu seinem Entsetzen hatte sie zugegeben, dass er recht hatte, aber gleichzeitig beteuert, sie liebe ihn genauso sehr wie seinen Rivalen; sie brauche Zeit, hatte sie behauptet, um herauszufinden, wen sie mehr liebe. Enrique war zu sehr Latino, um sich auf eine solche Konkurrenzsituation einzulassen, und zu sehr Jude, um Sylvie die Ambivalenz zu glauben. In seinen Augen wollte sie nur nicht diejenige sein, die die Beziehung beendete, sie wollte, dass er diesen schmutzigen Job übernahm, was er auch prompt tat, indem er ihr ein Ultimatum stellte, brüllend (»Er oder ich!«), und aus der Wohnung stapfte, um allein in den Straßen von Little Italy zu heulen.
    Enrique kam gar nicht auf die Idee, dass Sylvie sich von ihm missachtet fühlte. Er war wütend, als sie ihn tränenüberströmt fragte, ob er sie liebe – eine Viertelstunde nachdem sie gestanden hatte, ihm Hörner aufgesetzt zu haben. Er wollte nicht hören, dass sie sich zurückgewiesen fühlte,weil ihm nur noch danach war, sich in einer Ecke zusammenzurollen und zu sterben. Er ließ sich nicht mal dazu herbei, auf ihre Frage zu antworten, weil ja wohl angesichts seines Schmerzes offensichtlich war, dass er sie liebte und sie während der ganzen Zeit ihres Zusammenseins geliebt hatte. Er war das Opfer und sie die Mörderin, was Enrique, jung, wie er war, für moralische Kategorien hielt. Sie hatte dreieinhalb Jahre mit ihm zusammengelebt, praktisch sein ganzes Erwachsenenleben, wenn man denn die Zeit zwischen sechzehn und zwanzig als Erwachsensein bezeichnen konnte. Sie hatte ihn in dieser Zeit durch und durch kennengelernt und warf ihn jetzt einfach auf den Müll wie den Schwarzweißfernseher vom letzten Jahr, als wäre er minderwertig, nicht mehr zu gebrauchen. Kurz, er war abserviert worden, und wenn er auch öffentlich ihre Trennung mit unüberbrückbarer geistiger und seelischer Verschiedenheit begründete, glaubte er
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