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Glückliche Ehe

Glückliche Ehe

Titel: Glückliche Ehe
Autoren: Klett-Cotta Verlag
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dieser erzwungenen Trennungen war er dageblieben, war gut sichtbar im Wartebereich auf und ab gewandert, ohne auch nur einmal pinkeln zu gehen. Er wollte das erste Gesicht sein, das sie sah, wenn sie benebelt aus der Narkose aufwachte und wenn sie zitternd darauf wartete, dass sich die Morphiumvorhänge herabsenkten, damit sie den Schmerz ihrer jüngsten Wunden ertragen konnte. Aber das ist doch unrealistisch, oder?, fragte er sich. Die Drogen, die den Schmerz nahmen, löschten doch auch die Erinnerung an seine tröstenden Worte und Küsse, obwohl Margaret immer, immer zu wissen schien, dass er da gewesen war.
    So gewissenhaft war Enrique, dass er sich selbst fast schon der Heuchelei verdächtigt hätte, wäre da nicht die eine Situation gewesen, in der er gefehlt hatte, in der er ihr gefehlthatte. Vor fast drei Jahren hatte er es Margarets geliebter Freundin Lily überlassen, auf dem Klinikflur auf und ab zu gehen, nachdem der Urologe Margaret schließlich die Blasenkrebsdiagnose eröffnet hatte, die Enrique da schon seit zwei Tagen gekannt hatte. Natürlich hatte Enrique die Ausrede gehabt, dass ihr jüngerer Sohn, der sechzehnjährige Max, allein zu Hause war und noch nicht wusste, warum seine Mutter jetzt schon die dritte Nacht im Krankenhaus bleiben musste, wo sie doch nur für eine Stunde hatte hingehen wollen. Klar, aber er hätte es anders arrangieren können wie später so oft. Seine Halbschwester Rebecca oder Lily oder sonst jemand hätte bei Max übernachten können, während Enrique das getan hätte, was wichtiger gewesen wäre: Margarets Panik ertragen, sie in den Armen halten, ermutigen und trösten, aufheitern und lieben, obwohl er sich selbst fürchtete wie noch nie zuvor.
    Aber es war jetzt lange her, dass die Verzweiflung in sein Leben gekommen war: Zwei Jahre und acht Monate, einhundertsiebenundvierzig Tage und Nächte im Krankenhaus, drei große Operationen, ein halbes Dutzend kleinerer Eingriffe, vierzehn Monate Chemo, zwei Remissionen und zwei Rezidive lagen zwischen damals und jetzt. Wenn er durch den Schleier aus Müdigkeit zurückblickte, schien der Ausgang von vorneherein entschieden, dieses zentimeterweise Sterben, der Weg zur Endstation – über die Hoffnung grinste inzwischen ein Totenschädel.
    Margaret schien kaum zu atmen oder zu träumen, ihr kleiner Körper noch kleiner in der Embryonalhaltung, und doch glaubte er nicht, dass dies ein friedlicher Schlaf oder überhaupt richtiger Schlaf war. Die Drogen dimmten ihr Bewusstsein, aber sie ließen sie nicht den fortschreitenden Verlust an Lebensqualität vergessen und schon gar nicht das Ende, dem dieser Prozess zustrebte.
    Er blickte durchs Fenster auf einen dichten,regenschwangeren Himmel, der über dem East River hing, und trank einen Kaffee von Dean & Deluca. Alles, was Energie – und sei sie noch so kurzlebig – versprach, war willkommen im Kampf gegen die alles durchdringende Müdigkeit. Doch trotz der zwei Becher fühlte er Stirn, Augenlider und Wangen herabsinken, als ob er skalpiert worden wäre und eine Maske aus Fleisch langsam kinnwärts rutschte. Wenn Enrique für einen Moment die brennenden Augen schloss, um ihnen eine kurze Erholungspause von der ausdörrenden Klimaanlagenluft des Sloan-Kettering-Krankenhauses zu gönnen, sackte sofort der Teppichboden des Privatpatientenzimmers unter ihm weg, und er driftete dahin – bis ihn das Abkippen seines Kopfs, eine Stimme, das Vibrieren seines Handys jäh in den Zustand todmüder Hellwachheit zurückrissen. Dauernd drängten ihn derzeit Freunde, mehr zu schlafen, und nahmen dann den Rat sofort wieder zurück, weil er so offensichtlich nicht zu befolgen war. Um seinen bewusst begriffsstutzigen Halbbruder – der, statt Margaret im Krankenhaus zu besuchen, darauf bestand, Enrique zum Essen einzuladen – zum Schweigen zu bringen, hatte er allerdings die seinem Zeitplan zugrunde liegende Logik ausführlich erläutern müssen: »Ich will nachts im Krankenhaus sein, wenn sie besonders allein ist, und ich will Max nicht vernachlässigen, was bedeutet, im Sloan zu schlafen, im Morgengrauen aufzustehen – das ist im Krankenhaus kein Problem, glaub mir –, um nach Hause zu fahren, Max zu wecken, ihn zu überreden, etwas zu essen, ihn zur U-Bahn zu begleiten, dann zu duschen, mich umzuziehen und ins Sloan zu fahren, um zur Visite da zu sein, die ich allerdings sowieso meistens verpasse, weil sie schon so früh ist, macht aber nichts, weil ich die Ärzte nachmittags noch mal erwischen
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