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Gleitflug

Gleitflug

Titel: Gleitflug
Autoren: Anne-Gine Goemans
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Tatsache wie ein Mantra.
    Gieles wusste nicht, ob sie recht hatte. Fest stand, dass vor gut einem Jahr ihr Mann an einem Herzinfarkt gestorben war. Eines Morgens hatte er tot im Bett gelegen. Ein Rätsel, meinte der Arzt, aber für Dolly war es keins. Sie war davon überzeugt, dass der Flughafen und die leeren Häuser schuld waren. Der Fluglärm hatte an ihm gefressen, wie Pilze einen Baum aushöhlen können. Und sie spürte die Ausstrahlung der Krebsdämonen durch die Wände hindurch. Dolly verfluchte das Haus, die Gegend und ihr Leben, aber sie kam einfach nicht von hier weg. Seit dem Tod ihres Mannes stand das Schild mit der Aufschrift ZU VERKAUFEN im Vorgarten. Aber noch nicht ein einziger Interessent hatte sich gemeldet.
    Dolly öffnete die Tür. Sie hatte schon ihre Jacke an, ihr Gesicht war sorgfältig geschminkt. Sie lächelte. »Hallo«, sagte Gieles und stellte seinen Rucksack mit dem Laptop unter der Garderobe ab. Sobald wie möglich wollte er online gehen.
    Er fand Dolly sexy, aber manchmal schüchterte sie ihn auch ein bisschen ein. Gegenüber ihren Kindern konnte sie irrsinnig ausrasten. Seine Eltern brüllten und schlugen nie. Ein einziges Mal hatte er eine Ohrfeige bekommen. Das war nach dem Zwischenfall mit dem Farbbeutel auf der Cityhopper-Maschine gewesen. Sein Vater hatte ihn aus seinem Versteck unter dem Bett gezerrt. Gieles war von oben bis unten mit blauer Farbe bespritzt. Dann der Schlag. Ein einmaliger Ausrutscher.
    Dolly konnte Menschen mit einem ganz bestimmten Blick anschauen, dem man lieber auswich. Ihn sah sie nie so an, aber manchmal zum Beispiel seine Mutter. Wenn sie bei einem Kindergeburtstag von afrikanischen Kindern mit abgehackten Gliedmaßen und zertrümmerten Schädeln erzählte, dann verengten sich Dollys Augen. Dieser Blick drückte eindeutig Ablehnung aus.
    Im Wohnzimmer sprangen ihn die beiden älteren Jungen johlend an, Skiq und Freek. Dolly ging zum Esstisch, auf dem ein Koffer voller Vitaminpräparate lag. Die brachte sie an zwei Abenden pro Woche bei Verkaufsveranstaltungen in Privathäusern unter die Leute. Tagsüber arbeitete sie in ihrem eigenen Friseursalon. Gieles wusste nicht, ob sie die Pillen auch selbst nahm. Sie sah oft müde aus.
    »Jonas schläft schon«, erklärte Dolly, während sie den Koffer schloss und vom Tisch zog.
    »Ich trag ihn dir«, sagte Gieles. Er schüttelte Skiq von seinem Rücken und ging mühsam zum Tisch, Freek umklammerte mit den Armen sein Bein und ließ sich mitschleifen.
    »Freek, lass das«, schnauzte sie. Gieles folgte ihren tickenden hohen Absätzen nach draußen und legte den Koffer auf den Rücksitz des alten Nissan. Im Auto roch es nach ihrem Parfüm.
    »Du bist ein Engel«, sagte sie.
    Sie hatte ihn schon einmal so genannt. »Ich begreife nicht, wie deine Mutter so einen Engel wie dich allein lassen kann«, hatte sie gesagt.
    Dolly strich über sein statisch aufgeladenes Haar und lachte.»Versuch’s mal mit einem Holzkamm. Das hilft. Im Badezimmer liegt einer, sonst im Schlafzimmer. Auf der Fensterbank, glaube ich.«
    Dann winkte sie kurz den Jungen zu, die am Fenster standen. In dem Moment fiel eine der Pflanzen von der Fensterbank. Es war der Gummibaum.
    »Verdammt noch mal.«
    »Ich bring das schon in Ordnung«, sagte Gieles.
    Sie stieg in den Wagen und kurbelte das Seitenfenster herunter. »Nicht das Inhalieren vergessen!«
    Drinnen stritten sich die Jungen wegen des Gummibaums. Der Topf lag in drei Teilen auf dem Boden. Die Erde war knochentrocken, überall waren braune Blätter mit einer Staubschicht darauf verstreut. Seit ihr Mann gestorben war, machte Dolly das Haus kaum noch sauber. Das war nicht besonders schlau, fand Gieles, denn so würde sie nie einen Käufer finden. Andererseits: Er wollte ja nicht, dass Dolly und die Kinder wegzogen.
    Gieles stellte die Pflanze in die Spüle und ließ Wasser laufen, das der Wurzelballen aufsaugte. Auf der Arbeitsplatte neben der Spüle lagen zehn Euro fürs Babysitten.
    »Ich brauche Kleber«, sagte Gieles. »Wenn ihr aufhört rumzuschreien, dürft ihr mir helfen.«
    Sie rannten zum Einbauschrank im Flur. Als sie wiederkamen, hatten sie die Hände voll Klebstofftuben.
    »Eine reicht.« Er legte die drei Tonscherben auf den Tisch. Die Jungen strichen den Klebstoff auf die Bruchkanten. Gieles setzte die Stücke zusammen.
    »Jetzt die Hände auf die Risse legen und drücken.«
    Er dachte an seine Mutter. Sie hatte Narben an den Armen, von einem Autounfall in Sambia. Oder Malawi, das
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