Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Gleitflug

Gleitflug

Titel: Gleitflug
Autoren: Anne-Gine Goemans
Vom Netzwerk:
gelaunt. »Ich habe Schalen für die Gänse.«
    Gieles goss sich ein Glas Milch ein, trank es in einem Zug aus und wischte sich den Milchschnauzer ab. Die glatte Haut über der Oberlippe ärgerte ihn. Nicht das kleinste bisschen Flaum.
    Sein Vater und Onkel Fred waren eineiige Zwillinge, sahen sich aber überhaupt nicht ähnlich. Willem Slob hatte kaum noch Haare, Onkel Fred mit seinen schwarzgrauen Locken dagegen fast schon zu viele. Die Gestalt von Gieles’ Vater erinnerte an Statuen von kraftstrotzenden Staatsmännern. Onkel Fred war schmal und hatte einen schleppenden Gang, eine Folge seiner Kinderlähmung. Er fuhr mit einem Elektromobil und benutzte eine Krücke. Einen Spazierstock wollte er auf keinen Fall. Nicht, dass sein Bein jemals wieder heil werden könnte, aber die Krücke erweckte den Eindruck von vorübergehender Behinderung.
    Auch charakterlich waren die beiden ganz verschieden, und ebenso verschieden waren ihre Hobbys. Gieles’ Vater liebte Vögel und Comics. Onkel Fred Kochen und Literatur. Das Einzige, was sie gemeinsam hatten, waren ihre Größe von einem Meter neunundneunzig und ihre Fürsorge für Gieles.
    »Denkst du an den Gänsekot?«, fragte Onkel Fred und reichte ihm die Zeitung mit den Schalen. »Wir haben Gäste. Ein Ehepaar.« Man konnte ihm die Freude anhören.
    Aus der Scheune holte Gieles Schaufel und Eimer. Der Deal mit seinem Vater war klar. Er durfte zwei Gänse halten, solange sie nicht flogen. Sobald sie das taten, mussten sie weg. Außerdem war er für ihre Betreuung verantwortlich, praktisch bedeutete das vor allem: für das Entfernen von Kot. Die Gänse kackten durchschnittlich einmal pro Minute.
    Auf dem Stück Weideland neben dem alten Bauernhof lag Onkel Freds Campingplatz. Er hatte ihn vor kurzem in einen Bauernhof-Campingführer aufnehmen lassen, obwohl er eigentlich kein einziges Kriterium dafür erfüllte. Ruhe oder Stille fand man hier nicht. Fast in dem gleichen mörderischen Tempo, in dem die Gänse kackten, kamen die Flugzeuge. Der Herausgeber des Campingführers sprach von einer Marktnische. Das konnte man wohl sagen. Familien ließen sich auf diesem Platz nicht blicken. Die Flugzeug-» spotter «, die hier campten, waren meistens ziemlich schräge Vögel. Dass sein Campingplatz nicht viel Gewinn abwarf, kümmerte Onkel Fred wenig. Ihn brachte nichts aus der Ruhe. Auch der Kerosin-Grauschleier auf dem Holzschild – WILLKOMMEN AUF DEM HOTSPOT – störte ihn nicht besonders.
    Die Gänse watschelten auf Gieles zu. Sie begrüßten ihn mit vorgestreckten, pendelnden Hälsen. Er strich über die Federhauben auf ihren Köpfen. Dann stellte er den Eimer mit den Apfelschalen ins Gras. Die beiden reagierten nicht gerade begeistert, sie steckten kurz ihre Köpfe hinein und pickten ihn dann in den Oberschenkel. Sie fraßen lieber Spekulatius. Süchtig waren sie danach. Gieles gab es ihnen aber nur beim Training. Sonst gehorchten sie gar nicht mehr.
    Am Rand der Wiese sah er einen silberfarbenen Wohnwagen, der an ein Raumschiff erinnerte. Eine Frau stand davor. Sie hob grüßend die Hand und winkte ihn heran. Er rammte die Schaufel wie eine Fahnenstange in den Boden und ging auf die Frau zu, die Gänse verfolgten ihn bettelnd. Das Gesicht der Frau war voll kleiner Falten und Risse wie ein altes Gemälde, aber ihre Augen waren klar. Mädchenhaft. Wie restauriert.
    »Guten Tag. Wie gefällt es Ihnen hier?«, sagte Gieles.
    Er war zu alten Leuten fast übertrieben höflich. Alte Leute fand er bemitleidenswert, weil sie bald starben.
    »Sehr gut«, antwortete sie freundlich. »Was ich dich fragen wollte: Mein Mann und ich möchten heute Abend grillen. Geht das?«
    »Das ist kein Problem. Solange Sie kein Lagerfeuer machen. Das kann die Piloten verwirren. Und Drachen dürfen Sie auch nicht steigen lassen«, scherzte er.
    Sie lächelte. »Du machst wohl gern Witze.«
    Die Tür des Raumschiffs öffnete sich. Ein Mann stieg heraus. Er trug eine Pilotenbrille und eine wattierte Weste mit aufgesteppten Taschen. An seinem Hals baumelte ein Fernglas. Aus seiner kurzen Hose schauten knochige Knie und Unterschenkel hervor, die aussahen, als wären sie verkalkt.
    Mit einem Handtuch rieb der Mann über die runden Formen des Raumschiffs. Er hielt sich nicht mit einer Begrüßung auf. »Schau mal. Da kann man sich drin spiegeln, was?«
    Tatsächlich. In der Tür sah Gieles, dass ihm die Haare hochstanden, und strich mit der Hand über seinen Kopf.
    »Die Ursprünge des Airstream«, sagte der
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher