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Gleitflug

Gleitflug

Titel: Gleitflug
Autoren: Anne-Gine Goemans
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ums Feuer, andere lagen in enger Umarmung in den Hängematten. Jemand spielte Gitarre. In den Kuppelzelten wurden Taschenlampen ein- und ausgeschaltet, das Wäldchen erinnerte an eine Zauberlaterne. Ein Mann schöpfte mit einem Eimer Wasser zum Spülen aus dem Graben, in den er selbst kurz vorher noch gepinkelt hatte. Einmal sah Gieles aus einer Hängematte einen nackten Hintern hervorschauen. Ob ein oder zwei Menschen in der Matte lagen, konnte er nicht erkennen.
    An dem Tag, als das Gericht die Enteignung des Geländes bestätigte, machten sich die Umweltschützer bereit, bis zum bitteren Ende Widerstand zu leisten. Einen Guerillakrieg kündigten sie an, sie wollten die Gegend in ein Schlachtfeld verwandeln. Natürlich war Gieles auf ihrer Seite. Toon und er bastelten aus Holz und einem dicken Gummiband eine Schleuder.
    Doch es kam nicht zum Kampf. Als zwei Polizisten die Straße sperrten und so das Lager von der Versorgung abschnitten,wurden die Zelte in aller Stille abgebrochen, die Bäume verpflanzt. Das Einzige, was danach noch an das Lager erinnerte, war der Baum aus Eisen mit den hölzernen Blättern. Aber auch er war nach ein paar Tagen verschwunden. Der Flughafen hatte gewonnen.
    Seit ihrer Fertigstellung übte die Piste, so nah am Hof, eine große Anziehungskraft auf Gieles aus. Die ersten Versuche, die verbotenen Meter zu überwinden, unternahmen Toon und er mit einem Blasrohr und Papier. Vom Dachfenster aus schossen sie Kugeln aus zerkautem Schmierpapier in Richtung Bahn, bis ihnen von der Tinte übel wurde. So fing es an; später nahmen sie die Schleuder und erfanden eine ganze Reihe von immer weniger harmlosen Spielvarianten.
    Die Beschießungen endeten ein für alle Mal, als ein selbstverfertigter Farbbeutel an einer Cityhopper-Maschine zerplatzte. Der Farbbeutel war eine Idee des Hausbesetzers, der neben Toon und seiner Familie wohnte. Seit der Inbetriebnahme der Piste stand das Haus leer. Niemand wollte dort noch wohnen, außer dem Besetzer. Von ihm lernten Toon und Gieles, wie man aus Luftballons solche Beutel herstellte. Sie mussten die Ballons mindestens vierzigmal in Kerzenwachs tauchen. Dann hätten sie ein Geschoss, sagte der Hausbesetzer, mit dem man auch ein Doppelglasfenster einschmeißen konnte. Gieles und Toon wollten kein Doppelglas einschmeißen, deshalb hatten sie ihre Ballons nur zwanzigmal in Wachs getaucht. Gleich der erste Schuss war ein Volltreffer. Der Pilot dachte zunächst, ein großer Vogel sei gegen das Cockpit geknallt, aber die blaue Farbe war verdächtig. Und es dauerte nicht lange, da sahen Toon und Gieles vom Fenster aus die Blaulichter der Marechaussee näher kommen. Vor Schreck zerquetschte Gieles den Ballon in seiner Hand, so dass die Farbe durchs Zimmer spritzte. Leugnen wäre zwecklos gewesen.
    Gieles nahm eine von den Sirupwaffeln, die Judith ihm anbot. Ihr Mann war eingeschlafen. Das Kinn hing schlaff auf die wattierte Weste hinunter, das Fernglas lag auf den fleckigen Beinen. Gieles bedankte sich und begann mit dem Entfernen der Gänsekacke.
    Sein Vater hatte die Aktivisten als Armleuchter bezeichnet. Wer aufgab, ohne überhaupt richtig gekämpft zu haben, war in seinen Augen ein Riesenarmleuchter. Aber für Gieles waren sie Helden, und seit jenem Sommer sehnte er sich danach, ein Held zu werden. Er hatte schon einmal eine Heldentat begangen, aber die machte ihn noch nicht zum Helden. Vor zwei Jahren hatte er einen Schäferhund aus dem Wassergraben gerettet. Der Hund schaffte es einfach nicht, ans Ufer zu klettern. Als Gieles ihn am Halsband aus dem Wasser gezogen hatte, rannte er weg. Niemand hatte Gieles’ Heldentat beobachtet, also zählte sie nicht.
    Der Franzose Christian Moullec war ein Held. Mit seinem Ultraleichtflugzeug rettete er Zwerggänse, indem er ihnen den Weg in sichere Überwinterungsgebiete zeigte.
    Seine Mutter war eine Heldin. Sie reiste unter Lebensgefahr – aus für Gieles unerfindlichen Gründen – in die heißesten und trockensten Gegenden, um armen Afrikanerinnen den Umgang mit Solarkochern beizubringen.
    Der größte Held war ohne Zweifel Captain Sully. I was sure I could do it . Amerikaner vergötterten ihn. Sie tranken Kaffee aus I- ♥ -Sully-Bechern. Sie trugen T-Shirts mit Sätzen wie THANK YOU CAPTAIN SULLY, SULLY IS MY HOMEBOY, OLD PILOTS NEVER DIE . Sein Name stand auf Kissen, Mauspads, Autoaufklebern, Kalendern und Hundehemden. Frauen trugen Slips mit dem Aufdruck TRUE HERO FLT 1549 . Er war schärfer als Johnny Depp,
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