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Gleitflug

Gleitflug

Titel: Gleitflug
Autoren: Anne-Gine Goemans
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vielen anderen Dingen).
    Nach dem Essen ging Gieles auf sein Zimmer. Noch eine halbe Stunde, dann musste er weg. Er schaltete den Ventilator und den Laptop ein und wischte sich den Schweiß von der Stirn. Anfang Mai und schon eine Bullenhitze hier oben. Die Flughafengesellschaft hatte das Dach mit dicken Matten isolieren lassen, die den Lärm abhalten sollten. Seitdem war es in seinem Zimmer wie in einem Dampfkochtopf. Das Schlimmste war, dass ihm immer die Haare hochstanden. Das lag an dem Dämmmaterial; er war permanent statisch aufgeladen.
    Er wollte den Brief an Christian Moullec weiterschreiben, sah aber, dass seine Mutter gemailt hatte. Es war die zweite Nachricht seit ihrer Abreise. Und Gravitation war online. Flüchtig las er die letzten Sätze seiner Mutter.
    »Ohne Burka geht es auch nicht, trotz vierzig Grad Hitze. Du fehlst mir, und ich denke an dich und hoffe, dass du einmal einganz kurzes Minütchen an die vielen Menschen hier denkst, die in bitterer Armut leben. Alles Liebe, Ellen.«
    Gieles wollte nicht an die vielen Menschen dort denken und klickte die Mail weg. Der Gedanke an Afrikaner war fürchterlich deprimierend. Er dachte lieber an das Internetmädchen. Gravitation bedeutete Schwerkraft. Er fragte sich, warum sie sich wohl so nannte. Wollte sie andeuten, dass sie dick war? Aber so sah sie auf den kleinen Fotos nicht aus. Sie hatte pechschwarze Dreadlocks und ein blasses, ovales Gesicht. In ihrem Profil stand etwas von vierzehn Piercings. Gieles überlegte, wo die sein konnten, er sah nur eins an einer Augenbraue. Wegen der Dreadlocks und des schwarzen Make-ups konnte er sich keine deutliche Vorstellung von ihr machen. Aber ihre grünen Augen fand er wunderschön. Sie hatten die gleiche Farbe wie das Glas eines Aquariums, das seit Wochen nicht mehr saubergemacht worden war.
    Er konnte ihr natürlich etwas über ihre Augen schreiben, aber das wäre platt. Lieber ganz unkompliziert.
    Captain Sully : »Hi, was machst du gerade?«
    Gravitation : »Nichts Besonderes. Mit meinem Kaninchen spielen, Musik hören.«
    Captain Sully : »Was?«
    Gravitation : »Fever Ray. Kennst du bestimmt nicht. Fever Ray ist eine Frau aus Schweden. Verändert sich von Tag zu Tag. Genau wie ich. Heute morgen hab ich mir die Haare gefärbt.«
    Captain Sully : »Welche Farbe?«
    Gravitation : »Violett.«
    Voll verpeilt. Violette Dreadlocks.
    Captain Sully : »Kaninchen auch gefärbt?«
    Gravitation : »Quatsch.«
    Captain Sully : »Ich habe auch Kaninchen. Hunderte.«
    Gravitation : »Wohnst du im Streichelzoo?«
    Captain Sully : »LOL. Nein, ich wohne in einer Sackgasse neben einer Startbahn. Und an der Startbahn leben viele Kaninchen. Und Hasen.«
    Gravitation : »Cool.«
    Captain Sully : »Hier gibt es auch sehr viele Vögel und Füchse und so. Mein Vater sagt, der Flughafen ist ein Naturpark. Ich hab zwei Gänse.«
    Gravitation : »Gänse find ich geil.«
    Sie verarscht mich. Niemand findet Gänse geil.
    Gravitation : »Wie heißen sie?«
    Die Gänse waren namenlos, aber das konnte so aussehen, als ob er nicht genug für sie übrig hätte. Schnell scannte er sein Zimmer nach möglichen Namen ab. Im Regal sah er die Comics, die seinem Vater gehört hatten.
    Captain Sully : »Asterix und Obelix. Und dein Kaninchen?«
    Gravitation : »Einfach nur Kaninchen.«
    Captain Sully : »Wie alt ist es?«
    Gravitation : »Fünf. Und du?«
    Captain Sully : »Etwa vier.«
    Gravitation : »Nein. DU !«
    Sie ist bestimmt älter als vierzehn.
    Captain Sully : »Sechzehn. Und du?«
    Gravitation : »Knapp siebzehn.«
    Fast drei Jahre älter! Das heißt, für sie existiere ich praktisch nicht!
    Gravitation : »Ich zieh so bald wie möglich aus. Ich hasse meine Eltern.«
    Shit. In zehn Minuten muss ich bei Dolly sein.
    Captain Sully : »Ich muss weg. Arbeiten.«
    Gravitation : »Wo?«
    Babysitten war nicht cool, nahm Gieles an und dachte an Toons Job in der Metzgerei seines Vaters.
    Captain Sully : »Beim Metzger.«
    Gravitation : »Ich bin Vegetarierin.«

3
    Dolly wohnte mit ihren drei kleinen Söhnen an einer Kurve der Rollbahn. Ihr Haus war zwischen zwei verlassenen Gebäuden eingeklemmt, die aber auch nicht verfallener aussahen als ihres. Leerstehende Häuser waren nach Dollys Ansicht Krebsgeschwüre, die sofort weggeschnitten werden müssten. Doch das geschah nicht. Sie war am ungesündesten Ort des Universums gefangen. An Regentagen, wenn es auf dem Polder trüb und grau war und nur der Asphalt glänzte, wiederholte sie diese
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