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Glanz

Glanz

Titel: Glanz
Autoren: Karl Olsberg
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abergläubisch gewesen, und jetzt war nicht der richtige Moment, um es zu werden.
    Ich stand auf und ging zurück in Richtung der Klinik. |27| Ich wusste nicht genau, warum, aber das bevorstehende Treffen mit Maria gab mir neuen Mut. Zum ersten Mal seit Wochen hatte ich wieder Appetit. Vor der Auslage des Cafés überkam mich regelrechter Heißhunger. Ich bestellte mir einen Milchkaffee und ein großes Stück Käsekuchen und dann noch eins.
    Maria kam eine halbe Stunde zu spät. Sie entschuldigte sich nicht dafür. Ich bot ihr an, einen Kaffee und ein Stück Kuchen für sie zu bestellen, doch sie wollte nur ein Glas stilles Wasser. »Ich sollte eigentlich nicht hier sein«, sagte sie. »Dr. Kaufman hat mir ausdrücklich verboten, Privatgespräche mit den Angehörigen von Patienten zu führen.«
    »Ich bin Ihnen sehr dankbar, dass Sie gekommen sind, Maria. Bitte erzählen Sie mir, wie Sie das vorhin gemeint haben.«
    Maria senkte den Blick. »Es ist meine Tante. Sie holt mich manchmal abends ab. Und dann … dann besuchen wir die Patienten. Diejenigen, die nicht bei Bewusstsein sind.« Sie zögerte. Ihr fiel es sichtlich schwer, sich mir zu öffnen; so als sei sie im Begriff, mir ein Verbrechen zu gestehen.
    Ich wartete einfach ab.
    »Sie ist eine Seelensprecherin«, sagte Maria nach einer Weile.
    »Eine Seelensprecherin? Was soll das sein?«
    Marias Blick hing an ihrem Wasserglas. »Sie kann mit den Seelen der Toten reden.«
    »Sie meinen, Séancen und so?«
    Maria nickte. »Aber sie kann auch in die Seelen der Lebenden sehen.«
    Ich kam mir plötzlich albern vor. Während mein Sohn wegen einer Überdosis Drogen im Wachkoma lag, saß ich hier in einem Café und unterhielt mich mit einer unerfahrenen |28| Krankenschwester, die mir irgendwelchen esoterischen Humbug auftischte. Als Fotografin hatte ich mir einen kritischen, distanzierten Blick auf die Welt angewöhnt. Der schöne Schein war mein Lebensinhalt. Ich wusste nur allzu genau, wie viele Blender es gab. Wahrsager, Astrologen, Wunderheiler, Wanderprediger – eine ganze Branche lebte davon, Menschen etwas vorzugaukeln, ihnen in ihrem Leid und ihrer Verzweiflung falschen Trost zu verkaufen.
    Zorn stieg in mir auf. »Sind Sie gekommen, um mir diesen Mist zu erzählen? Arbeiten Sie im Krankenhaus, um Kunden für Ihre Tante zu gewinnen, denen sie dann für viel Geld ihr Schmierentheater vorspielt?«
    Maria blickte auf. In ihren sanften Augen lag wieder diese seltsame Trauer. Es war kaum denkbar, dass sie nur gespielt war. »Es … es tut mir leid. Ich gehe jetzt besser.« Sie stand auf.
    »Nein, warten Sie!« Ich wusste, dass es vernünftig gewesen wäre, sie nicht aufzuhalten. Dass es sinnlos war, sich an einen solchen Strohhalm zu klammern. Doch es war mir plötzlich egal, ob es eine falsche Hoffnung war, die sie mir gab, solange ich nur irgendetwas hatte, an das ich mich klammern konnte. Ich betrachtete den leeren Kuchenteller vor mir und erkannte, dass Hoffnung, so klein und unbegründet sie auch sein mochte, das Einzige war, das mich am Leben hielt. »Es tut mir leid, ich hab es nicht so gemeint. Ich bin einfach etwas … erschöpft.«
    Maria setzte sich wieder. »Schon gut. Ich hätte vielleicht gar nichts sagen sollen. Meine Tante hat mich davor gewarnt, darüber zu sprechen.«
    »Worüber?«
    »Was sie sieht.«
    »Erzählen Sie es mir!«
    |29| »Wie gesagt, sie holt mich manchmal vom Dienst ab. Es ist schon ein paar Wochen her, Ihr Sohn war gerade von der Intensivstation zu uns verlegt worden. Sie war zuerst bei Mr. Lafferty, das war der alte Mann in dem Bett links, dort, wo jetzt Mr. Sanders liegt. Sie hat ihm die Hand auf die Stirn gelegt und einen Moment die Augen geschlossen. Dann hat sie gelächelt und gesagt, er sei bereit, endlich loszulassen, und dass es nicht mehr lange dauere. Am nächsten Tag war er tot.«
    Eine tolle Geschichte. Einem sterbenskranken Menschen seinen Tod zu prophezeien, war wohl keine große Leistung. Aber ich verkniff mir meine skeptische Bemerkung.
    »Dann gingen wir zu Eric«, fuhr Maria fort. »Ich erzählte ihr, dass er wegen einer Überdosis Drogen im Wachkoma liegt. Sie setzte sich zu ihm und nahm seine Hand. Sie saß ziemlich lange da, länger als bei den anderen Patienten, und ich dachte, vielleicht ist es schwieriger für sie, weil er so jung ist. Doch als sie die Augen wieder öffnete, waren sie glasig, und sie wirkte ganz verwirrt. Sie sagte etwas, das ich nicht verstand. Ich fragte nach, was mit Eric los sei, und erst
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