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Glanz

Glanz

Titel: Glanz
Autoren: Karl Olsberg
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unerträglich. Ich nickte und erhob mich, um nach Hause zu gehen.
    Auf dem Flur, dessen Linoleum im kalten Neonlicht glänzte, traf ich Maria. Sie senkte den Blick, als sie mich sah. Ich spürte, dass sie etwas wusste – etwas, das mir Dr. Kaufman mit Rücksicht auf meinen Zustand nicht gesagt hatte. Ich ergriff ihren Arm. »Schwester Maria.«
    Sie blieb stehen, ohne mich anzusehen. »Ja?«
    »Wird er wieder aufwachen?«
    Sie antwortete nicht.
    »Bitte, Schwester. Sagen Sie mir die Wahrheit!«
    Endlich blickte sie auf, und ihre Augen glänzten von Tränen. »Er hat sich verloren«, sagte sie.
    Es waren weniger ihre Worte als diese seltsame, ehrliche Trauer, die mich traf wie ein Faustschlag. »Verloren? Was meinen Sie damit?«
    »Er findet den Weg zum Licht nicht.«
    Ich starrte sie verständnislos an.
    »Bitte … Sie tun mir weh!«
    Erst jetzt merkte ich, dass ich ihren Arm die ganze Zeit fest umklammert hielt. Ich ließ sie los. »Was … was soll das heißen?«
    »Ich kann Ihnen nicht mehr sagen.« Sie setzte ihren Weg fort.
    Ich folgte ihr. »Was denn für ein Licht? Was haben Sie damit gemeint?«
    »Bitte, nicht so laut! Wenn der Chef mitbekommt, dass ich schon wieder …« Sie stockte, als ein Arzt aus einem der Patientenzimmer kam und in unsere Richtung blickte. 
    |25| Ich begriff, dass ich sie angeschrien hatte. »Entschuldigung«, sagte ich leise. »Ich will Ihnen keine Schwierigkeiten machen, aber …«
    Sie sah auf die Uhr. »In anderthalb Stunden habe ich Feierabend. Gegenüber dem Krankenhaus ist ein Starbucks. Warten Sie dort auf mich.« Ohne eine Antwort abzuwarten, drehte sie sich um. Ich blickte ihr nach, bis sie im Schwesternzimmer verschwunden war.
    Es lohnte sich nicht, zwischendurch nach Hause zu fahren. Doch die Worte der Krankenschwester hatten mich so aufgewühlt, dass ich es auch nicht an Erics Bett aushielt.
    Ich beschloss, einen Spaziergang zu machen. Ein milder Aprilwind blies den schalen Benzingeruch der Großstadt fort und ersetzte ihn durch das frische, salzige Aroma des Atlantiks. Ich folgte diesem Duft, bis ich am Ufer des East River stand. Das Wasser der Meerenge schob sich träge dahin wie seit Jahrtausenden, unberührt von den Schicksalen der Menschen an ihren Flanken. Die ewige Kraft der Gezeiten, die die Strömung hier antrieb, hatte etwas Vertrauenerweckendes. Einen Moment lang durchzuckte mich der Impuls, ins Wasser zu springen und mich hinaus in den Atlantik treiben zu lassen, vorbei an der fackeltragenden Statue, die unbegrenzte Freiheit versprach, und mich schließlich in den Weiten des Ozeans zu verlieren. Der Moment verging.
     
    Ich setzte mich auf eine Bank und starrte hinaus auf das Wasser. Nach ein paar Minuten kam ein Pärchen in Erics Alter vorbei. Das Mädchen wickelte einen Kaugummi aus, steckte ihn in den Mund und ließ das Silberpapier achtlos fallen. Dann blieb sie genau vor mir stehen, ohne mich oder ihre Umgebung wahrzunehmen. Sie umfasste den |26| Nacken des Jungen und drückte ihren zu stark geschminkten Mund auf seinen. Ich konnte sehen, wie der Junge die Augen aufriss. Das Mädchen löste sich von ihm, grinste und ging weiter. Der Junge blieb noch einen Moment stehen und kaute auf dem fremden Objekt in seinem Mund herum. Dann folgte er ihr mit einem Gesichtsausdruck, auf dem sich Überraschung und Glück spiegelten.
    Ich betrachtete das Silberpapier auf dem Gehweg und konnte den Anblick kaum ertragen. Eine irrationale Wut durchströmte mich. Wieso konnte dieses Pärchen so glücklich sein, während mein Sohn, dem Tode nahe, in einem Krankenhausbett lag? Ich bedauerte es beinahe, dass ich als Teenager aufgehört hatte, an Gott zu glauben. Jetzt hatte ich niemanden mehr, den ich für mein Unglück verantwortlich machen konnte.
    Plötzlich hatte ich das Gefühl, beobachtet zu werden. Ich wandte mich langsam um. Auf dem Rand der Mülltonne saß eine Krähe. Ihre leeren schwarzen Augen musterten mich, ohne zu blinzeln.
    Die Krähe legte den Kopf schief, als versuche sie, meine Gedanken zu ergründen. Dann stieß sie sich ab, schlug kräftig mit den Flügeln und erhob sich in die Luft. Im selben Moment stob aus den umliegenden Büschen ein Dutzend schwarzer Vögel auf. Sie bildeten einen Schwarm, der einen Kreis über mir zog, bevor er sich in Richtung des fernen Ufers aufmachte, zu den Docks und Lagerhallen von Brooklyn. Ich blickte ihnen nach. Die Tiere erschienen mir einen Moment lang wie Vorboten düsterer Zeiten. Ich schüttelte den Kopf. Ich war nie
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