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Glanz

Glanz

Titel: Glanz
Autoren: Karl Olsberg
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wenigen Leuten, auf die ich mich verlassen kann. Ich bin Fotografin in der Modebranche. Mein Job ist es, das Schöne zu zeigen, und zwar so, wie es in der Realität so gut wie nie vorkommt – makellos, perfekt. Als ich jetzt Eric so liegen sah, seine Gesichtszüge völlig entspannt, hatte ich das Gefühl, zum ersten Mal diese Perfektion zu sehen, ohne dass ich mit Schminke, Kunstlicht und Objektivfiltern nachhelfen musste.
    Ich strich sanft über seine Wange. »Wo bist du?«, fragte ich ihn. »Komm bitte zu mir zurück!«
    »Möchten Sie vielleicht einen Kaffee?«
    Ein Mädchen in der Kleidung einer Pflegerin war eingetreten. Sie schien höchstens zwei oder drei Jahre älter als Eric zu sein, und ich ertappte mich dabei, dass ich mich fragte, ob sie ihrer Aufgabe gewachsen war. Doch in ihren |16| ungewöhnlich großen, dunkelbraunen Augen glaubte ich etwas zu erkennen, das mich anrührte: einen Schmerz, der meinen eigenen zu spiegeln schien, so als verstünde sie wirklich, wie ich mich fühlte. Ich schüttelte den Kopf.
    »Mein Name ist Maria. Ich arbeite in der neurologischen Abteilung. Ihr Sohn wird auf unsere Station verlegt, sobald … klar ist, dass sein Zustand stabil bleibt.«
    Ich rang mir ein Lächeln ab. »Vielen Dank, Maria.«
    Sie war gerade gegangen, als ein grauhaariger Arzt das Zimmer betrat. Er ging leicht vornübergebeugt, als könne er die Last des Leids seiner Patienten kaum noch ertragen. Er stellte sich als Dr. Kaufman vor, Leiter der neurologischen Abteilung. »Leiden Sie gelegentlich unter Depressionen?«, fragte er. »Haben Sie jemals Medikamente gegen Stimmungsschwankungen verschrieben bekommen?«
    »Ich? Nein, wie kommen Sie darauf?«
    »Wir haben das Blut Ihres Sohnes untersucht und Spuren einer Substanz gefunden: Glanotrizyklin.«
    Ich sah ihn verständnislos an.
    »Glanotrizyklin ist ein starkes Antidepressivum. In der Szene wird es auch ›Glanz‹ genannt.«
    »Szene? Was für eine Szene?«
    »Drogen. Medikamentenmissbrauch. Glanotrizyklin wird eine bewusstseinsverändernde Wirkung zugeschrieben. Es hebt die Stimmung und verstärkt die Wahrnehmung. In letzter Zeit ist von einigen Fällen berichtet worden, bei denen Computerspieler versucht haben, die Intensität des Spielerlebnisses damit zu erhöhen. Sieht so aus, als hätte Ihr Sohn eine Überdosis davon eingenommen.«
    Schwer zu beschreiben, was ich in diesem Moment fühlte. An der Oberfläche Entsetzen – etwas, das zu erwarten gewesen wäre: der Schock der Erkenntnis, als |17| Mutter versagt zu haben. Doch darunter lauerte etwas viel Tieferes, Bedrohlicheres, eine Dunkelheit der Seele, eine Verzweiflung, wie ich sie noch nie gespürt hatte. Eigentlich hätte die Tatsache, dass die Ärzte endlich den Grund für Erics Zustand kannten, meine Hoffnung schüren sollen. Doch tatsächlich hatte ich in diesem Moment das übermächtige Gefühl, meinen Sohn für immer verloren zu haben.
    Der Arzt versuchte, mich zu beruhigen. »Ich will Ihnen keine falschen Hoffnungen machen, Frau Demmet. Aber es gibt eine realistische Chance, dass Ihr Sohn in ein paar Tagen von selbst wieder aus seinem Zustand erwacht. Jung und kräftig, wie er ist, kann es gut sein, dass er keine bleibenden Schäden davonträgt.«
    Es war eine barmherzige Lüge.

|18| 2.
    Ich musste nicht lange suchen: Eric hatte sich nicht die Mühe gemacht, die Drogen raffiniert zu verstecken. In der obersten Schublade seines Schreibtischs fand ich unter ein paar zerknitterten Zetteln mit Notizen aus der Schule einen kleinen Plastikbeutel mit etwa zwanzig länglichen, hellblauen Kapseln. Sie sahen aus wie ein ganz normales, industriell hergestelltes Medikament, ein Vitaminpräparat vielleicht. Der Beutel war nicht beschriftet.
    Mein erster Gedanke war, noch einmal in die Klinik zu fahren und den Ärzten das Zeug zu geben. Doch wozu? Sie wussten ja bereits, was passiert war, und irgendwie hatte ich das Gefühl, meinen Sohn zu verpetzen, wenn ich ihnen die Drogen zeigte. Also legte ich das Tütchen einfach zurück an seinen Platz.
    Ich zwang zwei Käsetoasts in mich hinein und legte mich ins Bett, doch sobald ich die Augen schloss, sah ich Eric in blutbefleckter Rüstung auf dem Boden liegen, von schwarzen Vögeln bedeckt.
    Nach einer schlaflosen Nacht sagte ich einen Auftrag ab, für den ich mehrere Monate gekämpft hatte, und fuhr in die Klinik. An Erics Zustand hatte sich nichts geändert. Ich saß an seinem Bett und hielt seine Hand. Er starrte mit leerem Blick an die Decke. Wenn man
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