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Glanz

Glanz

Titel: Glanz
Autoren: Karl Olsberg
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Dahl und Astrid Lindgren. Action-Figuren, die noch vor nicht allzu langer Zeit verbissen miteinander gerungen hatten, setzten allmählich Staub an. Eine vergessene Kiste mit Bauklötzen kündete von der Zeit, als Eric, versunken in seine eigene Phantasiewelt, stundenlang still dagesessen und erstaunliche Türme und Gebäude errichtet hatte. Das schien Ewigkeiten her und doch erst gestern gewesen zu sein.
    Ich setzte mich auf das Bett, dessen Wäsche mit Manga-Figuren bedruckt war. Halb unter der Decke verborgen lag ein Kuschelhase, als schäme er sich ein wenig dafür, hier zu sein. Eric hatte ihn von meiner Mutter zur Geburt geschenkt bekommen; es war immer sein wertvollster Besitz gewesen, und er hatte ihn überallhin mitgeschleppt. Der Plüsch war an einigen Stellen ausgefallen, und das |22| linke Ohr hing nur noch an einem dünnen Faden. Ich drückte den Hasen an mich und sank aufs Kopfkissen. Erics Duft stieg mir in die Nase, und die Sehnsucht nach ihm überwältigte mich.
    Endlich flossen die Tränen.
     
    Ich weiß nicht, wie ich die folgenden Wochen durchstand. Ich schlief wenig, aß fast nichts, verbrachte jede Minute im Krankenhaus. Man hatte Eric nach ein paar Tagen aus der Intensivstation in die neurologische Abteilung verlegt. Er teilte jetzt das Zimmer mit zwei alten Männern, die im Sterben lagen. Ein Schlauch führte durch seine Nase bis in seinen Magen. Mehrmals pro Tag wurden ihm auf diese Weise breiförmige Nahrung und Flüssigkeit zugeführt.
    Jeden Montag kam Dr. Ignacius in die Klinik und untersuchte ihn, doch seine Erklärungen blieben stets genauso vage und unverbindlich wie beim ersten Mal.
    Wachkomapatienten haben einen normalen Schlafrhythmus, wie mir Dr. Kaufman schon am ersten Tag erklärt hatte. Jeden Morgen, wenn er die Augen öffnete, hatte ich die Hoffnung, Eric könne mich erkennen oder wenigstens irgendetwas wahrnehmen, doch sein Blick blieb leer. Eines Morgens gab ich ihm in meiner Verzweiflung sogar eine Ohrfeige und brüllte ihn an. Natürlich bewirkte es nichts, und ich hatte danach tagelang ein schlechtes Gewissen.
    Dr. Kaufman empfahl mir, viel mit Eric zu sprechen. Neuere Studien hätten gezeigt, dass Wachkomapatienten mehr von ihrer Umwelt wahrnähmen, als man früher geglaubt habe, auch wenn sie nicht darauf reagieren könnten. Obwohl er damit bestätigte, was Dr. Ignacius gesagt hatte, befürchtete ich, dass er mich nur beruhigen wollte. Aber natürlich befolgte ich seinen Rat.
    |23| Manchmal hatte ich den Eindruck, dass sich das regelmäßige Signal des Herzschlags auf dem kleinen Monitor leicht veränderte, wenn ich mit ihm sprach. Doch es gelang mir nie, mich selbst davon zu überzeugen, dass dies ein Beweis für eine Reaktion Erics auf meine Worte war.
    Da ich bald nicht mehr wusste, was ich erzählen sollte, las ich ihm vor. Zuerst die Kinderbücher, die er früher geliebt hatte, dann Jugendbücher für seine Altersgruppe, die ich zu diesem Zweck kaufte. Manchmal, wenn die Geschichten spannend waren, vergaß ich für einen Moment, dass er mich nicht hören konnte. Doch all meine Bemühungen änderten nicht das Geringste an seinem Zustand.
    Meine Hoffnung schwand mit jedem Tag, und ich konnte an Dr. Kaufmans Gesicht ablesen, dass auch er immer weniger an seine eigenen Beschwichtigungsformeln glaubte. Irgendwann kam er zu seiner täglichen Visite. Anstatt meinen Sohn zu untersuchen, nahm er sich einen Hocker und setzte sich mir gegenüber. Seine blaugrauen Augen fixierten mich. »Mrs. Demmet, so geht das nicht weiter. Sie können nicht immer nur hier sitzen. Wir machen uns ernsthaft Sorgen um Ihren Gesundheitszustand. Wenn Ihr Sohn wieder zu sich kommt, wird er Sie bei vollen Kräften brauchen. Sie müssen sich schonen!«
    »Mir geht es gut«, log ich.
    Anstatt zu antworten, holte er einen kleinen Spiegel hervor und hielt ihn mir vors Gesicht. Ich erschrak. Die Frau, die mir entgegenblickte, schien zwanzig Jahre zu alt. Mein Gesicht war eingefallen, meine Augen waren gerötet, die Lider schlaff, die Tränensäcke groß und dunkel. »Aber er braucht mich doch!«, sagte ich trotzig.
    Dr. Kaufman schüttelte den Kopf. »Sie können ihm nicht helfen, indem Sie sich selbst zugrunde richten. Ich sage Ihnen eins: Wenn Sie so weitermachen, werden Sie in |24| ein paar Tagen selbst in diesem Krankenhaus liegen. Aber glauben Sie bloß nicht, wir bringen Sie dann im selben Raum unter wie Ihren Sohn!«
    Die Drohung wirkte. Die Vorstellung, dass ich von ihm getrennt würde, war
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