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Giebelschatten

Titel: Giebelschatten
Autoren: Kai Meyer
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– lebte als Kind hier im Haus. Er bewohnte ein Zimmer im Ostflügel. Eines Tages wurde er krank.« Lord Muybridge faßte sich an die Stirn. »Hier oben, meine ich. Kurz darauf starb er. Und mein Großvater, demnach euer Urgroßvater, ließ den Flügel räumen und verschloß ihn. Das ist alles.«
    »Das ist alles?« wiederholte Martin erstaunt. Christopher an seiner Seite schwieg, aber Gwen hatte das Gefühl, als merke er sich jedes einzelne Wort, das gesprochen wurde. Sie beschloß, vor ihm auf der Hut zu sein.
    »Allerdings«, erwiderte ihr Vater. »Und wie ihr wißt, werden Traditionen in diesem Haus sehr geschätzt und gepflegt. Deshalb bleibt der Flügel abgeschlossen, und ich hoffe, daß auch meine Erben sich an dieses Gebot halten werden.«
    Dabei sah er die Mädchen eingehend an, und Gwen erkannte in seinem Blick wieder jene Mischung aus Selbstmitleid und verknöchertem Stolz, die er oft bei solchen Ansprachen ausstrahlte.
    Dann stand er auf, murmelte ein trockenes »Gute Nacht« und verließ den Raum. Die fünf blieben zurück zwischen schmutzigem Geschirr und umherhuschenden Dienern. Niemand sagte ein Wort, und als Gwen Christophers Blick kreuzte, sah sie, daß ihr neuer Stiefbruder tief in Gedanken versunken war.
    Auch Flagg war noch anwesend. Reglos stand er in der staubigen Dunkelheit seiner Ecke, scheinbar ohne zu atmen, steif und knochig wie eine Mumie in ihrem Sarkophag.
     
    Die nächsten Monate verflogen mit grellem Sonnenschein und warmem Sommerregen, und wenig Bemerkenswertes tat sich in jener Zeit im Hause Muybridge.
    Gwen erhielt gemeinsam mit Martin Unterricht in Latein, Mathematik, Griechisch und Literatur, spielte mit ihm Tennis und verbrachte die langen Sommerabende mit Büchern und den Einladungen junger Adeliger.
    Christopher dagegen mußte am Unterricht der beiden jüngeren Mädchen teilnehmen, um die Grundregem des Lesens, Schreibens und Rechnens zu erlernen, Dinge, auf die er während seiner Jahre im East End weitgehend hatte verzichten müssen. Um so begieriger nahm er nun dieses neue Wissen in sich auf, interessiert an allem und jedem, und trotzdem besessen von einer schwelenden Unzufriedenheit mit der Tatsache, seine Vormittage allein in Gesellschaft von Miranda und Nicole verbringen zu müssen. An den Nachmittagen half er Flagg bei kleineren Arbeiten im Haus, und er bemerkte, daß der groteske Butler sich für ihn zu erwärmen begann – was ihm nur recht sein konnte, strebte er doch insgeheim danach, Martin in der Gunst des Personals und der Familie auszustechen.
    Gwen mied ihn, und sie wußte, daß es Martin genauso ging. Sie glaubte zu spüren, daß irgend etwas Christophers Seele aufwühlte. Er war anders als die Menschen, die sie kannte, und die Distanz, die er von sich aus wahrte, hatte nichts zu tun mit der scheuen Zurückhaltung Martins oder der verzogenen Arroganz mancher ihrer abendlichen Begleiter. Ihre Abneigung ihm gegenüber vertiefte sich von Tag zu Tag, aber gleichzeitig blieb da ein düsteres Interesse an dem was er war, was er tat, und vor allem was er dachte. Denn das war es, was sie beunruhigte, und als sie einmal mit Martin darüber sprach, zwischen zwei Aufschlägen beim Tennis, leicht über das Netz gebeugt und tuschelnd, da erfuhr sie, daß es ihm ähnlich erging.
    Ihre Eltern schienen nichts von dem dunklen Sturm zu bemerken, der sich unter ihrem Dach zusammenbraute. Im Gegenteil: Ihre Mutter entwickelte plötzlich ein bizarres Interesse an der Aufzucht fleischfressender Pflanzen, eine Aufgabe, die sie nur noch mehr von ihren Kindern entfremdete. Innerhalb weniger Tage verwandelte sich der Vorraum ihrer Schlafgemächer in ein wucherndes Treibhaus, vollgestopft mit tropischen Fleischfressern aller Art, die sich an den riesigen Fliegenschwärmen gütlich taten, die zu diesem Zweck in dem Raum ausgesetzt worden waren.
    Abgesehen von dem unangenehmen Umstand, daß sich die Insekten auf das gesamte Haus ausbreiteten, hatte die eigentümliche Leidenschaft der Lady auch ihr Gutes. Gwens Vater begann nämlich zur Überraschung aller die Begeisterung seiner Frau zu teilen, und so kam es, daß er, wohl zum erstenmal seit der Zeugung Nicoles vor fast neun Jahren, die Schlafräume seiner Gattin aufsuchte. Da saßen die beiden dann an einem kleinen runden Tisch zwischen all den grünen Monstrositäten, tranken Tee und aßen Kekse und beobachteten mit trockenem Interesse, wie sich hier und da eine der Blüten mit einem unauffälligen Schnappen um eine Fliege schloß und
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