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Giebelschatten

Titel: Giebelschatten
Autoren: Kai Meyer
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Haufen zeigen, wozu er in der Lage war. Schon sah er sich als Erbe des Hauses und seiner Reichtümer, vielleicht sogar als Gatte Gwens, dem lebenden Schlüssel zu all diesen Schätzen.
    Als er den Fuß auf die erste Stufe setzte, fühlte er in sich nichts als Triumph und wirbelndes Glücksgefühl. Die Treppe führte in weiten Drehungen nach oben, in den vierten und dann in den fünften Stock. Aber auch hier nahmen die Stufen noch kein Ende, und er setzte seinen Weg in die Höhe fort, bis er vor einer tapezierten Falltür zum Stehen kam.
    Vorsichtig drückte er dagegen, brach den Widerstand der verzogenen Ränder und schob die Tür schließlich nach oben. Staub und Mörtelfragmente rieselten auf ihn herab, und für einen kurzen Moment war sein Blickfeld verschleiert von trockenen Wolken, die in seinen Augen brannten.
    Langsam schob er den Kopf durch die Öffnung, erst nur bis auf Höhe seiner Nase, dann, zögernd, bis zu den Schultern. Er hob den Kerzenleuchter in die Höhe, und im Nu füllte sich die Finsternis des Dachbodens mit trübgelbem Dämmerlicht, das aufgrund seines Flackerns noch beängstigender war als die völlige Schwärze zuvor.
    Der Raum unter dem Dach war riesig. Offenbar hatte man ihn bis zur Abriegelung des Ostflügels als Trockenspeicher verwendet, denn schier endlose Leinen und Schnüre waren von einer Seite zur anderen gespannt. Der Speicher schien gewaltig zu sein, doch das tanzende Licht der Kerzen reichte nur aus, um einen kleinen Bereich rund um die Luke zu erleuchten. Die weiter entfernten Wände und das hohe Dachgebälk lagen in undurchdringlicher Dunkelheit.
    Christopher stieg die letzten Stufen hinauf und trat auf den knarrenden Dachboden aus rissigen, schwarz verfärbten Holzbohlen. Staub lag wie ein grauer Samtteppich über der gesamten Fläche, und seine Füße verursachten Abdrücke wie in frisch gefallenem Schnee. Seit Jahrzehnten war niemand mehr hier oben gewesen.
    In allen Ecken und Winkeln hingen dichte Vorhänge aus Spinnweben, wie Schleier aus edler Gaze, und als er sich genauer umsah, mußte er feststellen, daß einige der Schnüre, die er für Wäscheleinen gehalten hatte, haarfeine Taue aus Spinnenseide waren, die der Staub mit einer lockeren Kruste umgeben hatte. In manchen Netzen hingen die Weberinnen dieser feinmaschigen Kunstwerke, und in nicht wenige kam verschlafene Bewegung, als sie den ungebetenen Gast bemerkten.
    Ein Lächeln huschte über Christophers Gesicht, als er sich aufmachte, diesen Ort genauer zu erforschen.
    Die Schrägen des gewaltigen Daches trafen sich über der Mitte der hölzernen Halle; das Netzwerk aus Brettern und Stützbalken formte über seinem Kopf einen geometrischen Dschungel. Oft mußte er bei seinem Rundgang innehalten und tief hängende Spinnweben aus Haar und Gesicht streichen, und mehr als einmal schnippte er mit den Fingern einige besonders wagemutige Tiere von seinem Körper in die Dunkelheit.
    Schließlich stieß er auf eine Tür. Wenn seine Orientierung ihn in dem begrenzten Lichtkegel der Kerzen nicht täuschte, befand er sich an der schmalen Westseite des rechteckigen Speichers. Die Tür besaß keinen Rahmen, lediglich vier schmale Fugen und ein matter Metallknauf verrieten ihre Existenz. Christopher schätzte ihre Höhe auf etwa eineinhalb Meter, und sie war so schmal, daß er befürchtete, sich kaum hindurchzwängen zu können.
    Er legte die Finger auf den Knauf und drehte daran. Mit einem Ächzen der uralten Scharniere schwang die Tür weit auf. Dahinter lag ein Raum, finster wie der ganze Ostflügel.
    Langsam schob er den Kerzenleuchter vor sich in die Dunkelheit. Das flackernde Zwielicht kroch schwerfällig wie eine zähe Flüssigkeit über den Boden, erst zaghaft, dann schneller, als er seine Hand weiter nach vorne schob. Plötzlich kletterte der trübe Schein im Zentrum des Raumes an etwas in die Höhe.
    Christopher schrie vor Schreck gellend auf, als er sah, was dort stand. Wer dort stand!
    Es war eine Frau, und sie hatte Gwens Gesicht.
    Aber nicht nur ihres allein.
     
    Gwen träumte in dieser Nacht etwas, das keinen Sinn ergab, auch nicht, als sie am Morgen noch einmal darüber nachdachte.
    Im Schlaf sah sie Tauben, riesige, gurrende Schwärme, die aufgereiht auf den Giebeln einer endlosen Landschaft aus dunklen Ziegeldächern saßen. Am Horizont stiegen schwarze Fahnen aus Qualm in den Himmel, und sie selbst kauerte nackt auf einem Schornstein und blickte ins leuchtende Abendrot.
    Plötzlich fühlte sie, daß jemand
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