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Giebelschatten

Titel: Giebelschatten
Autoren: Kai Meyer
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Netzwerk um ihren Körper gewesen, er hätte ihr sogar geglaubt, wenn sie ihm verkündet hätte, ein Engel zu sein. »Ich bin nicht deine Mutter, und ich bin auch nicht das Mädchen, das du so begehrst.«
    Gwen – woher wußte sie…?
    »Ich weiß alles über dich, sogar das, was du denkst.« Ihm war schwindelig, und plötzlich hatte er Kopfschmerzen. Immer noch war der Drang zu fliehen fast übermächtig.
    »Hab keine Angst vor mir. Ich will dir helfen.«
    Das perfekte Gesicht lächelte erneut.
    »Ich weiß, was du willst, nach was du dich sehnst. Dein Geist verzehrt sich vor Gier nach den Reichtümern der Muybridges. Und nach ihrer Tochter.«
    Er nickte zögernd. Jeder Gedanke an eine Flucht schwand. Ob sie ihm tatsächlich helfen konnte?
    »Natürlich kann ich das«, sagte die Gewebefrau, »aber erst müssen wir herausfinden, was du wirklich willst. Bist du sicher, daß es nur Geld und Macht sind? Oder diese Gwendoline?«
    Er verstand nicht, worauf sie hinauswollte. Das Licht der Kerzen beschien ihr Gesicht von unten, und machte ihre Schönheit nicht nur einzigartig, sondern gab ihren Zügen auch etwas Düsteres, fast Dämonisches. Aber er wußte, daß es längst zu spät war, sich jetzt noch zurückzuziehen.
    »Dein Verlangen ist nicht wirklich das des Fleisches«, fuhr die Erscheinung fort. »Es liegt tiefer, verwurzelt in deiner Unzufriedenheit mit dem, was dich umgibt.«
    »Und… was soll ich tun?« fragte er. Er spürte, wie etwas in ihm nach oben stieg, etwas Dunkles, Niederträchtiges; etwas, das ihm helfen würde.
    »Zeig dein wahres Gesicht, Christopher.« Plötzlich schwoll die Stimme an, wurde schärfer, bestimmender, bis sie nicht mehr zu dem Engelsgesicht der Frau passen wollte. Aber Christopher war bereits jenseits des Punktes, an dem er so etwas noch bemerkt hätte. Er taumelte und fühlte, wie etwas in ihm die Oberhand gewann, das er viel zu lange unterdrückt hatte. Eine Form der Macht, die größer war, als er es sich jemals erträumt hatte. Ein Wille, eine Bereitschaft, hart und kalt, schrecklich und großartig zugleich.
    Die Gewebefrau sprach noch weiter, flüsterte und schrie, sagte Dinge, die so wahr, so ehrlich waren, zog Gedanken aus den Abgründen seines Ichs, die immer da gewesen waren und nun endlich frei waren vom Kerker seiner Befangenheit.
    Stunden später, wie ihm schien, verließ er die geheime Dachkammer der Gewebefrau und schloß sorgfältig die Tür hinter sich.
    Draußen auf dem Speicher verharrte er einen Augenblick, um eine Spinne beim mühsamen Erklimmen einer Wand zu beobachten. Kurz bevor sie ihr Ziel erreichte, legte er seinen Daumen auf ihren Körper und drückte zu. Die Beine standen hinter seiner Fingerkuppe ab wie borstige Äste.
    Er verließ den Ostflügel in tiefster Zufriedenheit.

2.
     
    Am Abend des nächsten Tages wußte Gwen endlich, warum ihr der Schauplatz ihres Traumes so bekannt vorgekommen war. Sie erinnerte sich an einen Tag vor vielen Jahren, als Reparaturen auf dem Dach des Hauses hatten durchgeführt werden müssen. Heimlich war sie den Handwerkern durch eine Dachluke gefolgt, um ihnen bei der Arbeit zuzusehen. Plötzlich hatte sie sich in einer fremden Welt aus steinernen Kaminen, steilen und seichten Schrägen und einem endlosen Meer schwarzer Schindern wiedergefunden, überzogen mit vielfarbigen Mustern aus Pilzen und Moos.
    Sie beschloß, ihre Erinnerung an die Gefühle, die sie als Kind bei diesem Anblick empfunden hatte, aufzufrischen. Und obwohl sie selbst nicht genau wußte, warum sie es tat, erzählte sie Martin am folgenden Morgen während der Lateinstunde davon.
    »Du willst aufs Dach?« fragte er mit gesenkter Stimme.
    Sie nickte. »Klar.«
    Martin runzelte die Stirn, dann aber grinste er. »Nimmst du mich mit?«
    Mister Pimlott, ihr Privatlehrer, ließ die Kreide sinken, mit der er Deklinationstabellen an die Tafel schrieb, und fuhr herum. »Was gibt es da zu tuscheln?« keifte er erbost.
    Der Raum, der Gwen und Martin als Schulzimmer diente, befand sich im Erdgeschoß des Südflügels und war nicht besonders groß. Es ließ sich kaum vermeiden, daß dem kahlköpfigen Lehrer jede Störung seines Unterrichts zu Ohren kam. Auch war bei nur zwei Schülern die Gefahr nicht allzu groß, den falschen zu erwischen.
    »Gwendoline«, begann er lauernd, »hast du etwas zu sagen?«
    Sie schüttelte eilig den Kopf. »Ich… ich meinte nur, daß Mable heute kränklich aussieht.«
    Mable war eine fette weiße Ratte, so lang wie ihr Unterarm, die
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