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Giebelschatten

Titel: Giebelschatten
Autoren: Kai Meyer
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die Hand. »Valerie Bejart. Sie haben tatsächlich den weiten Weg von London nach hier gemacht? Sie müssen fürchterlich erschöpft sein.«
    »Haben Sie vielen Dank«, erwiderte Irina, schüttelte aber den Kopf. »Ich habe in einem kleinen Gasthof, dreißig Meilen westlich von hier übernachtet. Wir sind sehr früh aufgebrochen, aber ich habe während der Fahrt ein wenig geschlafen. Nun ja, so gut es eben ging«, fügte sie lächelnd hinzu und warf einen vielsagenden Blick durchs Fenster auf die Kutsche.
    »Sie wollten gerade ausgehen?« fragte sie, als sie bemerkte, daß Valerie Mantel und Schal in ihren Händen hielt.
    »Oh, das kann warten.«
    Irina winkte mit beiden Händen ab. »Kommt nicht in Frage. Wenn Sie erlauben, könnte ich eine Weile mit Ihnen gehen. Nach dem langen Sitzen würde mir das gut tun.« Sie machte eine kurze Pause und fügte dann hinzu: »Sicher interessiert Sie auch der Grund meines Hierseins.«
    Valerie nickte erfreut. »Natürlich.« Für einen kurzen Augenblick hatte sie fast den Eindruck, Irina sei froh, statt Curtis sie allein hier anzutreffen. Sie warf sich das Cape über, kuschelte sich in ihren Schal und gab dem Diener ein Zeichen. Eilig öffnete er die Tür.
    »Gehen wir«, sagte sie vergnügt.
     
    »Curtis hat mir nur von seinen Schwestern erzählt, nicht von einer Cousine.« Valerie zog den Schal fester um ihren Hals. Hier oben auf den Hügeln war es kühler als sie erwartet hatte, und ein eisiger Wind wehte lockere Schneekristalle von der Eiskruste auf, die sich wie winzige Strudel aus Puderzucker in die Luft schraubten.
    »Wir sind zusammen aufgewachsen – Curtis, ich, die beiden Schwestern und sein Bruder«, erwiderte Irina. Die Schneedecke krachte bei jedem ihrer Schritte.
    Valerie sah auf. »Sein Bruder?«
    »Aaron. Curtis und er sind Zwillinge.«
    Valerie schüttelte verständnislos den Kopf. »Er hat nie über ihn gesprochen.«
    Irinas Blick glitt an ihr vorüber und heftete sich weiter unten am Fuß der Hügelflanke auf den skelettierten Rand des Waldes. »Wie lange kennen Sie sich schon?«
    Valerie spürte, wie sie errötete. »Seit drei Tagen«, gestand sie. Aus den Augenwinkeln bemerkte sie, daß Irina neben ihr lächelte.
    »Aha«, machte die junge Engländerin verlegen.
    Valerie drehte sich abrupt zu ihr um und blieb stehen. »Was soll das heißen?« fragte sie mit einem wütenden Unterton, der sie selbst überraschte.
    Irina lachte auf. »Verzeihen Sie, es war wirklich nicht böse gemeint. Curtis kann ein wunderbarer Mensch sein, und ich bin sicher, daß Sie sehr glücklich mit ihm werden könnten.« Sie sagte könnten, und Valerie fragte sich, was sie damit andeuten wollte.
    »Wissen Sie«, fuhr die Engländerin fort, »Curtis hat einiges durchgemacht. Ich kann verstehen, daß er nach so kurzer Zeit noch nicht mit Ihnen über Aaron gesprochen hat.«
    Valerie schüttelte verständnislos den Kopf. »Aber warum? Was ist los mit seinem Bruder?«
    Ein dunkler Schatten huschte über Irinas Gesicht. »Ich weiß nicht, ob ich Ihnen wirklich davon erzählen soll. Curtis würde es nicht gefallen und –«
    »Hat es etwas damit zu tun, daß er heute morgen zurück nach Paris gefahren ist?« fiel Valerie ihr ins Wort.
    Irina sah sie kurz an, hielt ihrem fordernden Blick nicht länger als eine Sekunde stand und bückte sich dann, um einen dünnen Ast aufzuheben. Gedankenverloren begann sie, ihn in kleine Stücke zu zerbrechen. »Ich hoffe, daß es nichts damit zu tun hat. Das hoffe ich zutiefst.«
    »Verdammt, was ist los mit Ihnen? Und mit Curtis?« fuhr Valerie sie an. Sie sah, daß Irina zusammenzuckte. »Und was hat dieser Aaron damit zu tun?«
    Irina schleuderte die Bruchstücke des Astes heftig zu Boden, trat sie mit der Sohle in den Schnee, als wären sie die Beine einer giftigen Spinne, und sah dann zu Valerie auf. Plötzlich war ihr Blick fest auf ihre Augen gerichtet.
    »Haben Sie jemals von Jack the Ripper gehört?« fragte sie nach einer Weile.
    Valerie zog hastig die Luft ein. »Was hat das –«
    Irina brachte sie mit einer barschen Handbewegung zum Schweigen. »Sie haben von ihm gehört, jeder hat das«, stellte sie fest. »Es ist der Spitzname eines Unbekannten, der vor elf Jahren im Londoner Stadtteil Whitechapel fünf Huren – vielleicht sogar mehr – auf grausamste Weise getötet hat. Angeblich hat die Polizei ihn niemals gefangen.«
    Valerie nickte. Sie kannte die Geschichte.
    »Die offiziellen Verlautbarungen waren nichts als Lügen«, fuhr Irina nach
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