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Giebelschatten

Titel: Giebelschatten
Autoren: Kai Meyer
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einer kurzen Pause fort. »Man hat ihn geschnappt, nur wenige Tage nach dem letzten Mord. Es stellte sich heraus, das er der Sohn adeliger Eltern war, ein entfernter Verwandter von Königin Victoria. Um einen Skandal zu vermeiden, verheimlichte man seine Festnahme, entfernte den Namen aus sämtlichen Akten und schob ihn eilig ins Ausland ab.«
    Auf einmal glaubte Valerie zu spüren, daß der Wind kälter und heftiger in ihr Gesicht wehte. Ihr Körper überzog sich mit einer Gänsehaut, und sie fühlte, wie sich ihre Knie langsam in etwas Weiches, Nachgiebiges verwandelten.
    »Ich verstehe noch immer nicht«, begann sie, verstummte aber, als sie Irinas Blick kreuzte.
    »Wirklich nicht?«
    Valerie schwieg. Nach einer Weile schüttelte sie den Kopf. »Das kann nicht Ihr Ernst sein.«
    Die Engländerin antwortete nicht.
    »Sie… Sie meinen«, stotterte Valerie, »daß Curtis…?«
    Irina holte tief Luft und sprach weiter. »Nein, nicht Curtis. Aaron wurde verhaftet und in ein Irrenhaus gesperrt. Hier in Paris.«
    Erleichterung überkam Valerie. »Und Curtis ist ihm gefolgt?« fragte sie leise.
    Irina nickte. »Er ging mit nach Paris, um sich um seinen Bruder zu kümmern. Er hat ihn immer verteidigt, seine Unschuld beteuert. Aber irgendwann hat er aufgegeben. Ich weiß nicht, ob er ihn in den letzten Jahren noch besucht hat.«
    »Aber warum sind Sie gerade jetzt nach Frankreich gekommen?«
    »Wegen der Zeitungen. Es hat neue Morde gegeben, nicht wahr? Gestern morgen stand die dritte Tote auf den Titelseiten.« Sie seufzte. »Natürlich kann es Zufall sein. Aaron sitzt wahrscheinlich immer noch in seiner Zelle.«
    Plötzliches Stampfen von Pferdehufen im Schnee ließ sie erschrocken auffahren. Beide wirbelten herum. Über die Hügelkuppe galoppierte ein Reiter, und als er näher herankam, erkannte Valerie einen Bediensteten des Hauses.
    »Mesdames«, rief er, noch bevor er das Pferd zwei Schritte vor ihnen zum Stehen brachte. »Ein Telegramm. Von Mylord.«
    Er reichte Valerie einen kleinen Zettel. Sie las, was darauf stand.
    »Was ist passiert?« fragte Irina. Auf ihrer Stirn erschienen Sorgenfalten.
    Valerie sah auf. »Ich weiß es nicht. Aber Curtis bittet mich, zurück nach Paris zu kommen.«
    »Er kommt nicht mehr hierher?«
    Das Pferd schnaubte.
    »Nein. Ich soll sofort aufbrechen, schreibt er.« Plötzlich verdüsterte sich ihr Blick. »Kommen Sie doch mit mir, wenn Sie möchten.«
    Irina nickte schwerfällig. »Deshalb bin ich hergekommen.«
    Für einige Sekunden trafen sich wortlos ihre Blicke.
    Eine halbe Stunde später waren sie unterwegs.
     
    »Er ist fort!«
    Curtis war nicht überrascht gewesen, als er Irina sah. Man hatte ihm bereits von ihrem Telegramm aus Calais berichtet.
    Als sie und Valerie die Eingangshalle von Curtis’ Anwesen in einer Seitenstraße nahe der Champs-Elysées betreten hatten, war er ihnen entgegengeeilt und hatte sie nacheinander umarmt. Valerie hatte darauf gebrannt, ihn mit Fragen zu bestürmen, doch dann hatte sie eingesehen, daß es vernünftiger war, damit zu warten.
    In der Bibliothek servierte ein Diener ihnen Kaffee, den keiner trinken mochte.
    »Er ist fort«, sagte Curtis zum zweiten Mal.
    Valerie stellte bitter fest, daß er sich verändert hatte. Seine dunklen Augen waren von einem Schleier der Sorge überzogen, und sie hatte den Eindruck, als sei er innerhalb der letzten Stunden unmerklich in sich zusammengesunken. Seine Hände bewegten sich nervös vom Rand des Sessels zu seinen Beinen und wieder zurück, immer wieder, und seine Stimme klang gepreßt.
    »Sie hat dir alles erzählt, nehme ich an.«
    Es war keine Frage, sondern eine Feststellung, bei der er von Valerie zu Irina und wieder zurück zu Valerie blickte, ohne ein einziges Mal direkt in ihre Augen zu sehen.
    Seine Cousine starrte ihn ernst an. »Was ist passiert?« fragte sie.
    Curtis schüttelte langsam und ohne erkennbaren Grund den Kopf. »Aaron ist vor einigen Tagen aus der Anstalt entflohen. Gleich danach ist er hierher gekommen.« Er verstummte, so als versuche er, die Geschehnisse in der richtigen Reihenfolge zu ordnen.
    »Ich dachte, er ist…«, begann Valerie, doch Curtis unterbrach sie.
    »Verrückt?« Er preßte ein humorloses Lachen zwischen seinen Lippen hervor. »Nein, Aaron ist nicht verrückt. Das war er nie. Im Gegenteil, sein Verstand funktioniert hervorragend, seine Intelligenz ist größer als die der meisten Leute, die ich kenne – mich selbst eingeschlossen. Er war immer der Cleverere von
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