Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

Giebelschatten

Titel: Giebelschatten
Autoren: Kai Meyer
Vom Netzwerk:
hinunter. Ihr Herz schlug schneller. Die weite Kapuze behinderte ihre Sicht, und mehrmals glaubte sie Schritte zu hören, ohne aber jemanden in den Schatten erkennen zu können.
    Plötzlich vernahm sie hinter ihrem Rücken, am anderen Ende der Straße, das Trappern von Pferden und ein Knirschen wie von Kutschenrädern. Schlagartig wirbelte sie herum.
    Wind und Eis zerrissen ihren Ruf noch auf den Lippen. Durch den Vorhang tanzenden Schneetreibens sah sie einen dunklen Umriß auf sich zurasen. Sie winkte dem Kutscher zu, um ihn zum Anhalten zu bewegen, doch das Gefährt preschte ihr mit unverminderter Geschwindigkeit entgegen. Valerie blickte für einen Augenblick ungläubig nach vorne, federte dann herum und warf sich mit einem verzweifelten Sprung zur Seite.
    Während sie mit den Knien und einer Hand im Schnee landete, spürte sie, wie Pferde und Kutsche in einer schmutzigen Fontäne aus Schlamm an ihr vorbeidonnerten. Eisige Nässe spritzte über ihre Kleidung.
    Es dauerte einige Sekunden, bis sie sich von dem Schreck erholt hatte und sich mit einem Fluch wieder aufrappeln konnte. Sie stöhnte beim Anblick des verdreckten Capes, drehte sich um –
    Und erstarrte.
    Vor ihr stand eine schwarze Gestalt, eingerahmt von Schnee und Eispartikeln, die der Wind hinter ihrem Rücken hervorpeitschte; es sah aus wie Wände eines rasenden Tunnels, an dessen Ende der dunkle Umriß finster und dräuend stand – eine lauernde Spinne im Zentrum ihres Netzes.
    Valerie schrie auf.
    Die Angst packte sie von einem Sekundenbruchteil zum anderen, unvorbereitet und grausam, flutete durch ihren Körper und erfüllte sie mit panischem Entsetzen.
    Die Gestalt machte einen Schritt auf sie zu. Ein Lichtschimmer fiel auf ihr Gesicht und ließ die Schatten auf ihren Zügen auseinanderbrechen wie eine schwarze Kohlenkruste.
    Valerie wollte sich herumwerfen und losrennen, fort von hier, zurück zum Theater. Da erkannte sie den Mann. Ein zweiter Schrei löste sich aus ihrer Kehle, als sie sah, wie das schneeweiße Gesicht Stillers sich durch die Nacht auf sie zu schob, die geisterhafte Fratze eines Nachtmahrs, fremdartig, bedrohlich. Sie spürte, wie er eine Hand nach ihr ausstreckte, wie seine Finger nach ihr tasteten, den Stoff ihres Mantels berührten.
    Valerie rannte los. Nicht nach hinten, wie sie geplant und er es erwartet hatte, sondern vorwärts, auf Stiller zu, mit einem fürchterlichen Stoß gegen seine Schulter und an ihm vorbei. Er schrie auf, als er gegen eine Mauer taumelte, dann verschwand er aus Valeries Blickfeld und blieb hinter ihr zurück. Trotz des Windes glaubte sie zu hören, wie er ihr etwas zurief, doch dann war da nur noch das Platschen und Hämmern ihrer eigenen Füße im Schlamm. Ohne sich nach ihm umzusehen meinte sie zu fühlen, wie er ihr nach stürmte, wie seine Geschwindigkeit ihren Vorsprung zusammenschrumpfen ließ, seine Hand sich von neuem nach ihr ausstreckte, ein mörderischer Rammbock gegen Wind und Schnee, eine dunkle, kraftvolle Bedrohung, zupackend und tödlich.
    Sie warf sich um eine Ecke, rannte blind weiter, mit verkniffenen Augen, um sie gegen die peitschende Kälte zu schützen, vorwärts, auf eine winzige Kreuzung zu und über sie hinweg.
    Plötzlich war etwas – jemand – vor ihr. Sie kreischte auf, wollte sich abwenden, konnte aber ihre Geschwindigkeit nicht mehr bremsen. Mit einem weiteren Schrei prallte sie gegen etwas Weiches, torkelte und drohte zu stürzen, als sich zwei Arme um sie schlossen und sie nach oben rissen. Sie blickte auf und sah durch einen Vorhang aus Tränen und Schnee in das besorgte Gesicht eines jungen Mannes in Uniform. Seine Hände hielten sie fest und verhinderten, daß sie einfach zusammenbrach.
    Der Polizist sagte etwas zu ihr, das sie nicht verstand, beugte sich näher an sie heran und versuchte, durch das Heulen des Windes die Worte zu verstehen, die sie hervorpreßte.
    »Ich möchte…«, stammelte sie wie betäubt, »ich möchte eine Meldung machen.«
     
    Pascin musterte sie über den Schreibtisch hinweg wie die neueste Attraktion eines Kuriositätenkabinetts – interessiert, aber gefühllos, selbstbewußt, und doch mit einem unsicheren Flackern in den Augen.
    Valerie putzte sich die Nase.
    »Haben Sie Schnupfen?« fragte Pascin.
    »Nein.«
    »Meine Großmutter ist an Schnupfen gestorben.« Der Blick des Inspektors glitt von ihrem Gesicht zur Seite und an dem jungen Uniformierten hinauf, der hinter ihr stand.
    »Und Sie sind sicher, daß Sie nichts gesehen
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher