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Giebelschatten

Titel: Giebelschatten
Autoren: Kai Meyer
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mache das fast jeden Abend.«
    »Sie haben wohl oft Damenbesuch.«
    »Unsinn.« Er lachte, stand auf und warf sich seinen Mantel über. »In drei Minuten bin ich wieder da. Warten Sie hier auf mich?«
    Irina nickte.
    »Versprochen?« fragte er.
    »Versprochen.«
    Er griff nach der Türklinke und wandte sich noch einmal zu ihr um. »Ihr Akzent klingt süß«, sagte er, dann war er verschwunden und hatte die Tür hinter sich zugezogen.
    Irina lehnte sich mit einem glücklichen Seufzen zurück. Warum gab es in London keine solchen Männer? Sie streckte sich und stand auf. Vor dem Fenster herrschte Dunkelheit, nur das gelbe Licht einer einsamen Laterne warf einen schwachen Schimmer auf die gegenüberliegende Hauswand. Von außen häufte sich Schnee auf der Fensterbank, der den Blick auf ihre Seite der Straße verdeckte.
    Neugierig sah sie sich im Zimmer um. Für einen Augenblick bekämpfte sie das Verlangen, wie ein kleines Mädchen in Patricks Schrank zu schauen, zu sehen, was für Kleidung er besaß, die Bücher durchzustöbern und seine persönlichen Dinge zu betrachten. Schließlich setzte sie sich mit einem neuerlichen Seufzen zurück auf ihren Stuhl und mußte über ihre kindliche Euphorie lachen. War das etwa Liebe auf den ersten Blick? Die Antwort darauf wollte sie gar nicht wissen. In einigen Tagen würde sie ohnehin nach London zurückkehren müssen, vorausgesetzt Curtis ginge es besser und Aaron würde gefunden werden.
    Der Gedanke an die beiden senkte ihre Stimmung. Sie erinnerte sich an ihre Kindheit mit den Zwillingen, an ihre Jugend und an den fürchterlichen Tag, als man Aaron, wieder einmal von einem seiner Anfälle geschüttelt, als Massenmörder in eine Zelle gesperrt hatte. Alte Fragen stiegen in ihr auf, Dinge und Umstände, die sie vergessen wollte. Erinnerungen, von denen sie geglaubt hatte, daß sie hinter ihr lagen. Arme Valerie…
    Sie horchte, ob sie Patricks Schritte bereits auf der Treppe hören konnte, aber draußen auf dem Flur herrschte Stille. Die Uhr auf dem kleinen Schreibpult zeigte zwanzig nach elf. Er war jetzt fast zehn Minuten fort. Wenn er nicht bald kam, würde sie zu ihm hinuntergehen und ihn heraufholen. Sie lächelte bei der Vorstellung.
    Die Minuten verstrichen, erst fünf, dann zehn. Mit leichtem Mißmut stand Irina auf, zog ihr Cape um die Schultern und verließ das Zimmer. Draußen im Treppenhaus war es stockdunkel und eisig kalt, die Haustür stand wohl offen. Mit kleinen, vorsichtigen Schritten tastete sie sich bis zur Treppe vor und stieg langsam und mit beiden Händen an der Wand abgestützt die Stufen hinab.
    Unten, im Flur des Erdgeschosses, blieb sie wie angewurzelt stehen. Erschrocken zog sie mit einem scharfen Geräusch die Luft durch die Nase ein.
    Gegen das diffuse Rechteck der weit geöffneten Haustür erkannte sie die schwarze Silhouette eines Mannes.
    »Patrick?« fragte sie vorsichtig. Sie machte einen Schritt zurück.
    Die Gestalt schob sich langsam auf sie zu.
    Irina stöhnte auf. »Was wollen Sie von mir? Wer sind Sie?«
    Noch immer konnte sie nichts erkennen, nur die schwarze, formlose Kontur eines Mantels. Voller Angst glitt sie weiter zurück in die Dunkelheit, tastete in der Schwärze nach irgend etwas, mit dem sie sich wehren konnte.
    »Ich werde schreien«, begann sie, doch dann ging alles so schnell, daß ihr die Worte im Hals stecken blieben. Mit zwei, drei blitzschnellen Sätzen war der Mann heran und griff brutal in ihre Haare. Als er sich zur Seite drehte, fiel der Schein der Haustür als haarfeiner Umriß um seine Züge.
    Irina wollte schreien, doch eine Hand preßte sich mit übermenschlicher Kraft auf ihre Lippen und erstickte jeden Laut in ihrer Kehle.
    Irina sah ihn.
    Sah sein Gesicht und starb.
     
    Curtis saß in einem Sessel, elend und bleich, als hätte man ihn selbst des Mordes beschuldigt. Sie hatten ihn vor der Tür getroffen, als er gerade zurück vom Theater kam, wo er nach Valerie und Irina gesucht hatte.
    »Sie haben ihn hier versteckt, Cranham«, donnerte Pascin. »Sie haben einen Massenmörder unterstützt.«

    Sein Blick war voller Zorn. »Wissen Sie, was passieren wird, wenn er noch jemanden ermordet? Soll ich es Ihnen sagen, Lord Cranham?« Der Tonfall, in dem er das Wort aussprach, war kalt und abwertend.
    »Sie werden unverschämt, Inspektor«, sagte Curtis leise.
    »Unverschämt?« Pascins Gesicht sah aus, als würde es jede Sekunde in tausend Stücke zerspringen. »Man wird Sie einsperren. Ich werde Sie
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