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Giebelschatten

Titel: Giebelschatten
Autoren: Kai Meyer
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vier Stunden, bis das Zimmer, das er mit seiner versoffenen Mutter bewohnte, wieder frei war. Ohne große Hoffnung bat er den Gott der Straßenkinder, daß der alte Mann an der Stirnwunde verrecken mochte.
    Hinter sich hörte er, wie die beiden Polizisten langsam aufholten.
    Jean spurtete um eine weitere Ecke, sprang mit wenigen Sätzen eine breite Treppe hinunter, pöbelte im Laufen einen spindeldürren Lustknaben an – der Kerl drehte sich wie ein buntlackierter Kreisel –, und bog in eine Gasse, die so düster war, daß er kaum die eigene Hand vor Augen sehen konnte. Mit jagendem Atem lief er vorwärts, fast blind, hinein in die Finsternis und dem diffusen Lichtschein am anderen Ende entgegen.
    Die Polizisten riefen etwas hinter ihm her, einer stieß ein weiteres Mal langgezogen in seine Trillerpfeife, schrie plötzlich auf und fiel mit einem Jaulen und einem polternden Geräusch zu Boden. Sein Kollege brüllte etwas, das Jean nicht verstand, und setzte die Verfolgung fort.
    Im Dunkeln vor seinen Füßen strömte irgend etwas mit einer wellenförmigen Bewegung auseinander. Ratten! schoß es ihm durch den Kopf. Gleichzeitig trat er auf etwas Nachgiebiges, das mit einem grellen Kreischen unter seinem Fuß hindurchhuschte. Jean kämpfte um sein Gleichgewicht, hing für eine Sekunde mit wild umher kreisenden Armen wie schwerelos in der Luft und fiel schließlich mit einem Schrei nach vorne in die Finsternis.
    Als erstes krachte sein Knie auf das Pflaster. Er versuchte vergeblich, sein Gesicht zur Seite zu drehen, klatschte mit einem brüllenden Schmerz auf die Wange und blieb in etwas Feuchtem liegen, das roch wie seine Mutter, als sie noch im Pferdeschlachthaus an der Rue Petrelle gearbeitet hatte.
    Tränen schossen in seine Augen, als er von hinten gepackt wurde, jemand ihn in der Schwärze nach oben riß und brutal schüttelte. Eine zweite Silhouette kam auf ihn zu, dann hörte er, wie ein Streichholz angerissen wurde, und erkannte im flackernden Zwielicht die beiden Polizisten.
    »Er blutet«, meinte einer und schwenkte die winzige Flamme an Jeans geschundenem Körper hinunter, zum Bauch, seinen Beinen, bis hinab zu den Füßen und auf den Boden darunter…
    Der Polizist schrie gellend auf.
    Jean erwachte wie aus einem bösen Traum, nur um gleich in den nächsten zu verfallen. Mit einemmal hatten die Uniformierten jegliches Interesse an ihm verloren. Beide starrten nach unten auf das Pflaster, von dem der schreckliche Geruch aufstieg.
    Noch bevor Jean den Blick aus seinen geschwollenen Augen zu Boden richten konnte, erlosch das Streichholz. Schlagartig herrschte in der Gasse wieder tiefschwarze Nacht.
    Jean hörte den hektischen Atem der beiden Männer, spürte das nervöse Zucken in der Hand, die ihn festhielt, dann flammte ein zweites Streichholz auf und warf abermals Licht in die Schatten.
    Jean Valée, zwölf Jahre alt, begann zu brüllen wie noch nie in seinem Leben.
     
    Pascin erhob sich aus der Hocke und knallte mit der Stirn unter die Laterne, die ein Polizist über seinem Kopf schwenkte. Der Mann fuhr zusammen, Pascin brummte etwas und wandte sich dann an Darbon.
    »Wo ist der Junge?« fragte er.
    Darbon schenkte ihm einen überraschten Blick. »Ich hab ihn nach Hause geschickt. Einer von unseren Leuten ist mitgegangen.«
    »Als wenn der den Weg nicht allein findet«, murmelte Pascin abfällig und wandte sich um.
    »Ich dachte nur, weil –«
    »Ja, ja, schon gut.« Pascin nickte einem anderen Gendarmen zu. »Sie! Leuchten Sie noch mal an die Mauer.«
    Der Beamte hob seine Laterne, und ein V-förmiger Ausschnitt aus gelbem Licht fraß sich an der Wand der schmalen Gasse empor. Aus dem Dunkel schälte sich eine braune, verlaufene Schrift.
    »Wenn man aus dem Schönen das Böse entfernt, erhält man Vollendung«, las Pascin zum dritten Mal laut vor, als könne er damit den Mörder aus seinem Versteck locken.
    Die Gasse wurde von einem Dutzend Polizisten verstopft, von denen kaum drei in der schmalen, verdreckten Kluft zwischen den Häusern nebeneinander stehen konnten. An beiden Enden hatten sich Schaulustige versammelt – größtenteils Clochards und Huren –, die von Pascins Männern auf Abstand gehalten wurden.
    Die zerfleischte Leiche zu ihren Füßen war nach einer oberflächlichen Untersuchung durch den Amtsarzt des Viertels mit einem grauen Leinentuch abgedeckt worden, auf dem rote Flecken in bizarren Mustern erblühten. Bisher hatten sie weder den Namen noch sonstige Angaben über das
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